»Eltern und vom Thema Betroffenen wünsche ich ein Werk mit mehr psychologischem Tiefgang, Empathie und einer Fülle praxiserprobter Erziehungshilfen«, schrieb ich am Ende meiner Rezension zu »Vorsicht Bildschirm« von Manfred Spitzer.
Psychologischer Tiefgang und Empathie für die betroffenen Jugendlichen sind eine Spezialität des Kinderpsychologen und vielfachen Autors Wolfgang Bergmann aus Hannover. Weniger liegt ihm die Darbietung der von Eltern so häufig gewünschten (und gebrauchten) praxiserprobten Erziehungshilfen. Seine Herangehensweise ist die eines Sicheinfühlens und -Denkens in die inneren Welten der Kinder bzw. Jugendlichen.
Aus diesen Welten heraus sucht er nach einem sprachlichen Ausdruck, wirken seine Ausführungen wie ein sehnsüchtiges Bitten um Verständnis für die Not jener, die der Realität abhanden gekommen
sind.
Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht nicht die Computersucht allgemein, sondern der männliche spielbegeisterte Jugendliche. Beim Lesen fühlte ich mich häufig in den Band »Kleine Jungs – große Not« zurückversetzt, manches kam mir bekannt vor, wirkte wie eine Variation oder Wiederholung der dort und in anderen Werken erwähnten Fallbeispiele (s. a. »Das Drama des modernen Kindes«). Etwas zu langatmig und nicht immer nachvollziehbar empfand ich einige Passagen. Die fast
poetisch wirkende Vorstellung des z. Z. populärsten Online-Spiels »World of WarCraft« verwirrte mich »Unwissende«, so dass ich in dem neuen Lexikon »Von Avatar bis Zavatar« von Thomas
Feibel nachschlug, in dem eine kurze und völlig ausreichende sachliche Erklärung zu finden war. Ein wenig Fantasie bringen die Leser ja durchaus selbst mit … oder machen sich ihr eigenes Bild, wenn sie ihren computerspielenden Kindern über die Schulter schauen und sich für deren illusionäre Bildschirmreisen interessieren (so könnte z. B. ein praktischer Erziehungstipp lauten: Spielt mit euren Kindern am Computer oder probiert euch selbst mal darin).
Nun, zu dem erwachsen und sogar erfolgreich gewordenen verspielten Jungen Wolfgang gesellt sich, zunächst zögerlich, der nicht minder gereifte Gerald: ein Autoren-Duett-Debüt, auf dem Umschlag
kurz als Bergmann/Hüther tituliert.
Das wurde, so schoss es mir aus der berührten Seele, auch Zeit. Denn die angenehm sachlich, aber dennoch menschlich formulierten Erklärungen zu den Mechanismen der Auswirkungen von
Computerspielen auf das Gehirn geben dem zwar verstehenden, aber ratlosen Leser eine realitätsnahe Handreichung. Hüthers Formulierungen wissenschaftlicher Erkenntnisse bilden einen (be-gegnenden)
geistigen Kontrapunkt zu den uferlosen Tauchreisen durch die im Internet-Meer abgetriebenen Seelen.
Während ich auch hier zunächst bekannte Gedanken aus den früheren Werken Gerald Hüthers fand, steigerte ich mein Lesetempo ab Seite 115 mit deutlich zunehmender Konzentration und
Aufmerksamkeit. Nun wurde es spannend. Das 3. Kapitel über die Hintergründe und Mechanismen der Herausbildung einer Computersucht bestätigte lang gehegte Vermutungen, bereicherte diese durch neue
Impulse, Sichtweisen und Erkenntnisse aus der Forschung.
Mit dem 4. und letzten Kapitel, der Computer-Sprache gemäß »4th Task« überschrieben, führt das im Angesicht der Realität weniger begeisternde Nachdenken zurück zur Suche nach Ursachen und
Lösungen. Vertrauen brauchen die Kinder … Das ist sicher, aber wie sollen die Eltern ihnen Halt geben, wenn sie selbst das Vertrauen verloren oder gar nie gefunden haben? So unbeliebt sie sein mögen, die
viel umstrittenen und gemiedenen Erziehungsratschläge für die konkrete Praxis – sie können wertvolle Stützen sein auf dem Weg zum wahren Selbst von Klein und Groß, für die sich niemand schämen sollte.
Vielleicht in einem nächsten Buch?
Jutta Riedel-Henck, 3. Oktober 2006
Weiterführende Links:
Mehr Infos zum Buch beim Patmos-Verlag
Thomas Feibel
Von Avatar bis Zavatar Lexikon des Kinderalltags
Eine Übersetzungshilfe
Paperback, 176 Seiten Walter im Patmos Verlagshaus, August 2006 € 14,90 ISBN 3-530-40190-0
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