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REZENSION 6

Wolfgang Bergmann

Das Drama des modernen Kindes
Hyperaktivität, Magersucht, Selbstverletzung

Hardcover, 204 Seiten
Düsseldorf/Zürich: Walter, 2003
ISBN 3-530-40154-4
€ 18,00

»Das Drama des modernen Kindes« ist keine Neuauflage von Alice Millers »Drama des begabten Kindes« (Erstveröffentlichung 1979). Die Wurzeln der Problematik haben jedoch einen gemeinsamen Nenner: »Die Suche nach dem wahren Selbst«. Als gemeinsames Symptom findet sich die narzisstische Störung, gewachsen auf einer gemeinsamen Geschichte seelischer Unterdrückung, im Boden verdichtet als höchst brisantes Fundament, das jeder Zeit die unter ihm vergrabenen und geleugneten emotionalen Katastrophen zur Explosion freizugeben droht.

Der Autor Wolfgang Bergmann ist nicht nur praktizierender (Kinder-) Psychologe, sondern zugleich Mensch der Basis, fern von intellektuell aufgesetzten Allüren etablierter Schreibtischtäter, die mangels Kontakt und Mitgefühl den Draht zu Hilfe suchenden Eltern und ihren Kindern verloren haben oder gar nie gefunden. Bergmann bietet keine fertigen Konzepte, vielmehr wirken seine Beschreibungen wie Reisen auf der Suche nach den Ursachen der Symptome seiner jungen Patienten, die sich in einer Sackgasse verirrt haben oder einer Grube hocken, ausgedrückt in zerstörerischen Zwängen wie Magersucht, Selbstverletzung und Hyperaktivität.

Stichworte, die längst in aller Munde sind, um vor allem resigniertes Schweigen zu erzeugen oder geistig-verbale Kriege heraufzubeschwören ob ihrer Gültigkeit als wissenschaftliche Kategorien, die in ärztlichen und psychiatrischen Praxen in Form von Katalogen einer Art diagnostischen Abfrage dienen im Angesicht jener Menschen, die aus sozialen Gemeinschaften fallen und als so genannte Außenseiter in ein besonderes, auffälliges Störungsbild emigrierten.

Worin aber unterscheidet sich das moderne Kind der Gegenwart von jenem »begabten« aus den siebziger Jahren?

In meiner Kindheit und Jugend (ich bin Jahrgang 1961) war das Fernsehgerät eine junge Erfindung und stand, wenn überhaupt, im gemeinsamen Wohnzimmer der Familie. Die Programmwahl fiel nicht schwer, ARD, ZDF und »die Dritten« (Regionalsender). Die Sendezeiten mit Kinderfilmen oder –serien waren knapp bemessen, Freitag abends freute ich mich auf Paulchen Panther, Pan Tau oder Dick und Doof, Sonntags auf die Kinderfilme am Vormittag und Heinz Rühmann, den ich gerne in mein Heim ließ als liebevollen Opa aus der Ferne alter Traditionen. Abgehalten haben mich diese Filme nicht von einem Leben auf der Straße zwischen Gummitwist und aufgeschlagenen Knien beim Rollschuhlaufen.

Meine Eltern hatten keinen Grund, sich Sorgen zu machen ob der medialen Einflüsse auf uns Kinder, ungeachtet ihrer eigenen Kompetenzen in »Sachen« Erziehung.

Die mediale Entwicklung nahm ihren rasanten Lauf. Während ich Heinz Rühmann noch als unantastbaren Star betrachtete, sitzt das Kind der Gegenwart vor einem Computer und schiebt Figuren mit Mauszeiger oder Steuerrad über den Bildschirm, lässt Digimon und Barbie sprechen, fliegen, tanzen und reiten, als wären sie ein Teil bzw. Werkzeug seines Selbst.

»Ich guck mir nur Zeichentrickfilme an, die mit den richtigen Menschen mag ich nicht so«, erklärte meine Tochter, als ich ihren Fernsehkonsum kontrollierte. Eine Begründung lag mir auf der Zunge: Die Grenze zwischen Realität und Fantasie sollte bestehen bleiben, reale Figuren im Fernsehen ließen sie nicht leicht genug ins Land der Träume driften.

Als wir kürzlich ein neues Computer-Spiel ausprobierten, in dem ein Frosch per Tastaturklick über dicht befahrene Straßen hüpft, zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn er unter die Räder eines LKW geriet und geräuschvoll zerplatzte. Ich war erleichtert, als meine Tochter forderte, das Spiel von ihrem PC zu löschen, da es keinen Spaß mache. Es sei außerdem so eklig, wenn die Frösche unter den Autos zerquetschten.

Computerspiele machen nicht grundsätzlich krank, wenn sie auf einen Menschen treffen, der die Bilder vor seinen Augen im realen Gleichnis nachzuempfinden wagt, indem er die Schmerzen des Opfers mitfühlend begleitet, um diese, wenn möglich, im Spiel zu verhindern. Der Frosch soll heil über die Straße finden, damit er sich nicht weh tut, eine durchaus wünschenswerte Motivation auch für das reale Leben.

Was aber, wenn der Computerspieler sich lustvoll in die Rolle eines Scharfschützen versetzt, um die Regungen seiner Seele dem zielstrebigen Töten vermeintlich böser und damit eliminierenswerter Feinde zu widmen? Mag sein, dass sein Spiel nicht automatisch im realen Amoklauf endet. Ein Abbild seines Seelenlebens spiegelt sich dennoch in dieser hingabevollen Beschäftigung. Grund genug, solche alarmierenden Tendenzen ernst zu nehmen und ihnen wachsam zu begegnen.

Dass die Ursachen für seelische Schäden nicht allein in den Medien, sondern zunächst in der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung und seiner Entwicklung zu suchen seien, geht auch aus den einführenden Worten Wolfgang Bergmanns hervor. Die Abwesenheit vieler Väter bzw. ihre unklare Position innerhalb der Familie ließe Kinder häufig mit ihren Müttern allein, welche Konflikte scheuen und für ein überbehütendes Klima sorgen, dem gegenüber die Außenwelt als feindlich-fernes Phantom erscheint, dessen Eroberung vor allem Furcht einflößt. Statt in vielen Schritten die reale Umwelt zu erforschen und an den aufregenden Abenteuern des Alltags zu wachsen, um als selbständige Persönlichkeit daraus hervorzugehen, fliehen die überbeschützten Kinder in fantastische Ersatz-Welten, auf der Suche nach einem unverletzlichen Heldenbild als geistige Rüstung ihres harmoniegetränkten Selbst.

Die Angst vor der »feindlichen« Außen-Welt soll mit Hilfe medialer Manipulation bezwungen werden, während die Grenze zwischen Fantasie und eigenem Körper aus dem Bewusstsein schwindet. Hungernd strebt ein »magersüchtiges« Mädchen die Vereinigung mit ihrem unsterblichen Ideal an, fern aller irdischen Schwächen und Verletzlichkeiten. Doch der reale Körper offenbart trotz größter Einbildungskraft seine irdischen Makel, um ihn frustriert dafür zu hassen und zerstümmeln, während das geliebte Idol diesen Konflikten in seiner bildlichen Vollkommenheit enthoben scheint.

Nicht immer äußern sich die Symptome in selbstschädigendem Verhalten. Viel häufiger kommt es zu allgemeiner Unruhe, Aufmerksamkeitsdefiziten und zwischenmenschlichen Gewalthandlungen, die sich vor allem in sozialen Beziehungen und damit spätestens ab dem Besuch der (Pflicht-) Schule als Störung offenbaren. Kindern, die unter dem so genannten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) leiden, widmet der Autor Wolfgang Bergmann den 3. Teil seines Buches mit zahlreichen und sehr anschaulich beschriebenen Fallbeispielen aus seiner Praxis in Hannover. Zum Umgang mit dem Begriff »ADS« schreibt Bergmann:

»Das Verteufelte an ADS ist, man weiß nicht, was es tatsächlich ist. Zahllose Bücher sind auf dem Markt, die das Phänomen umkreisen oder statistisch-empirisch zu erfassen und zu gliedern versuchen. Es gibt vermutlich „-zig“ Therapieprogramme, wie man der Konzentrationsschwäche und Hyperaktivität Herr wird. Diese funktionieren manchmal, oft tun sie es nicht. Deswegen lautet meine These: ADS greift zwar epidemisch in der Welt unserer Kinder um sich, es bleibt aber dennoch ein Phänomen ohne Namen, ohne Verstehen. Wir sind ganz am Anfang.« (S. 128)

Ganz am Anfang, ohne Verstehen wirkt Wolfgang Bergmann nicht mit seinen praxisbezogenen und gut nachvollziehbaren Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit betroffenen Kindern und ihren Eltern, aber durchaus noch recht allein in einer Masse körperorientierter Mediziner, Psychiater und Forscher, die nach wie vor eine angeborene Stoffwechselstörung für dieses Phänomen verantwortlich zu machen suchen.

Dass in den sehr mitfühlend beschriebenen Fallbeispielen vor allem tiefe seelische Probleme zum Vorschein kommen, sollte Grund genug sein, sich seiner Sichtweisen anzunehmen und (nicht nur) dieses Buch zu lesen, damit ich meine Rezension ruhigen Gewissens zu beenden wage, was mir angesichts der vielen Anregungen wahrhaft schwer fällt.

Jutta Riedel-Henck, 2. Februar 2004

 

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