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REZENSION 16

Wolfgang Bergmann

Kleine Jungs – große Not
Wie wir ihnen Halt geben

Englische Broschur, 180 Seiten
Düsseldorf/Zürich: Walter, 2005
ISBN 3-530-40173-0
€ 14,90

Irgendetwas an diesem Titel stört mich: Kleine Jungs – große Not. Die Jungs und Mädels, Kids von heute – hinter solchen verniedlichenden Kurzformen versteckt sich nicht nur der ein und andere Buchstabe, sondern der gegenwärtig herrschende Zeitgeist im Umgang mit Kindern. Würden wir Erwachsenen einander mit Frauchen und Herrchen anreden, folgte rasch der suchende Blick nach unserem vierbeinigen Begleiter in Bodennähe.

Und warum klein? Ein Junge ist ein Junge. »Kleiner Mann, was nun?« Sind Kinder halbe Menschen? Der Schritt ist nicht weit zum »Sohnemann«, so nennt manch ein Vater seinen Sohn, als ob er sich für dessen Kleinheit schämte. Kein Mädchen ist mir bekannt, das von seiner Mutter Tochterfrau gerufen wurde.

Ich weiß, für Buchtitel sind die Verlage verantwortlich, nicht ihre Autoren. Das ist schade. Denn Titel prägen Inhalte. Ob jene Jungen, deren »große Not« in dem Buch thematisiert wird, sich von dieser Bezeichnung verstanden oder eher gedemütigt fühlen?

Immer wieder geraten Kinder in den Fokus der Aufmerksamkeit, um als Problemfälle auf dem Tisch von sezierenden, analysierenden und bewertenden Erziehungsspezialisten zu landen. Dabei hat ihre Not eine Ursache, die in der Erwachsenenwelt zu suchen ist. Die Kinder selbst empfinden ihr Verhalten als normal, während wir Erwachsenen gefordert sind, ihre Not als Ergebnis unserer Nötigungen zu begreifen und daraus tatkräftige Konsequenzen zu ziehen.

Das tut Wolfgang Bergmann. Nicht von oben herab, sondern indem er wagt, den Jungen in sich selbst zu wecken, ohne ein kumpelhaftes Dauerbündnis mit den Gästen seiner kinderpsychologischen Praxis einzugehen. Sein Schreiben wirkt wie das eines Suchenden, stets bemüht, Fragen zu stellen, neue Sichtweisen zu probieren, sich einzufühlen in das Unverstandene im Kind und seine daraus resultierende Einsamkeit.

    »Alles, was ich weiß, lerne ich von diesen Kindern. Daher wühle ich mich auch durch verschiedene Theorien durch, manche wirken so banal, dass sie angesichts der Komplexität dieser Kinder nicht in Betrachtung kommen. Hilfreich ist immer noch die Psychoanalyse, sie gibt viele Impulse des Verstehens. Sie stößt mich an, so wie ich versuche, im Leben der Kinder und der Familien Impulse und Anstöße auszusenden. Die Kinder mit ihrer Kompliziertheit haben mich, der zum Müßiggang neigt, fleißig gemacht. Sie bestätigen und widerlegen immer wieder das Gelesene, Angeeignete und beschwören das Vergessene, voreilig Verworfene, wieder herbei; sie tun es mit ihren Eigenarten, die mich immer wieder faszinieren und hin und her zerren: ihrer Spontaneität, ihrer Unmittelbarkeit bei all ihrer Desorientierung, zugleich diese enorme Differenziertheit, die sich hinter ihrer Härte und Kälte und ihrem Zutrauen und ihrer Sentimentalität verbirgt. Sie sind in Not, das ist wohl wahr. Aber sie sind auch offen auf eine Weise, sie zeigen eine unruhige, aber neuartige Welt-Perspektive, über die mein Wissen und Verstehen nicht verfügt. Ihre Lebensgeschichten sind nicht von großen klaren Linien durchzogen, die man nur nachzeichnen müsste, vielmehr sind es Brüche, Ruptionen, Ungleichzeitigkeiten, die kreuz und quer durch ihre Entwicklung laufen, Einheitliches durchkreuzen und insofern etwas zu Tage fördern, das mit den alten Persönlichkeitsmodellen, wie sie etwa im bürgerlichen Entwicklungsroman dargestellt werden, vollständig bricht.« (S. 131)

Viele weitere Zitate wären es wert, in meine Besprechung einzufließen. Besonders schockiert und betroffen machte mich der Bericht eines Falles, da einem 14-Jährigen der Wechsel zum Gymnasium von seinen Realschullehrern mit Unterstützung der Schulbehörde und Bezirksregierung verboten wurde, obwohl sich die Leistungen des Jungen auf dem Gymnasium sprunghaft verbessert hatten:

    »Die Bewertungen sprangen von „mangelhaft“ auf „befriedigend“, dann auf „gut“. Was ihm an gymnasialem Lernstoff fehlte, holte er am Wochenende und in den Ferien auf. Er war schier vor lauter Begeisterung wie von Sinnen. Die Lehrer bestätigten ihm einhellig die Fähigkeit, das Abitur zu bewältigen. Aber dazu kam es nicht.

    Die Lehrer der Realschule erhoben Einspruch, ihre Begründung war skurril: Seine Leistungen, sagten sie, seien zu schlecht. Der Hinweis, dass seine Leistungsfähigkeit sprunghaft gestiegen sei, berührte sie nicht. Sie verwiesen stur auf die schlechten Benotungen im Rahmen der Realschule.

    In einem ausführlichen Gutachten führte ich aus, dass die Rückführung des Jungen auf die Realschule – die er inzwischen von Herzen hasste – zu tief greifenden seelischen Störungen führen würde. Ich habe dies ausführlich begründet. Das Gutachten wurde mehrfach erwähnt, aber nicht im Geringsten berücksichtigt, die Entscheidung der Realschule und später der übergeordneten Schulbehörde, der Bezirksregierung, stand fest: Der Junge wird gezwungen, auf die Realschule zurückzugehen. Bei seinem derzeitigen Notenstand hieß dies, dass er am Ende des Jahres zur Hauptschule „nach unten“ durchgereicht werde.

    Die Mutter setzte einen Anwalt ein, es kam zu einem Verwaltungsgerichtsverfahren. Es ging verloren. Das Gymnasium wurde gezwungen, den 14-Jährigen auf die Realschule zurückzuverweisen. Was ich vorausgesagt hatte (es lag ja deutlich genug auf der Hand), trat ein: Der 14-jährige Junge verfiel in eine massive, seinem narzisstischen Charakter entsprechende Depressivität, er schloss sich über Wochen in seinem Zimmer ein. Seit Herbst hat er die Schule nicht mehr besucht. Er bekommt Psychopharmaka, seine schulische Karriere ist beendet.«
    (S. 173-174)

Ich muss mich schwer beherrschen, an dieser Stelle keine seitenlange Schimpfschrift zu verfassen, die zwar gerechtfertigt wäre, aber leider nicht jene erreicht, die solche Seelenfolter zu verantworten haben. Ein Fall, der an die Öffentlichkeit gehört, mit dem Hinweis, dass der Turm von Pisa von jenen zum Kippen gebracht wird, die in den obersten Etagen über die Köpfe lebendiger Menschen hinweg kaltschnäuzig Entscheidungen treffen, um sich anschließend aus dem Fenster ihrer Elfenbeintürme zu lehnen unter Missachtung banaler physikalischer Gesetze, deren Kenntnis von Schülern gefordert wird, während sie selbst ihre reale Umsetzung weder beherrschen noch berücksichtigen.

Deutschland, das Land der Dichter und Denker? Oder doch eher der Sprücheklopfer?

Den Schulen, Lehrern und Lehrerinnen, die ihren Beruf ernst nehmen, wird der Boden unter den Füßen weggezogen, vermeintliche Volksvertreter/innen basteln an neuen Gesetzen, die das alte mit einem neuen Korsett vertauschen und nur oberflächlich in bunte Farben tauchen. Als rohe Ostereier sollen sie den Schülern das Lernen schmackhaft machen, während die Basis, ein liebevolles pädagogisches Klima zwischen jungen und alten Menschen durchlöchert wird wie der berühmte Schweizer Käse, ein Bild, das neben den leeren oder gar löchrigen Hosentaschen gegenwärtig als Dauerbrenner herhalten muss, wenn Politiker/innen ihre eigenen (seelischen?) Nöte zu verschleiern suchen, welche sich mit Geldmangel alleine weder begründen noch wahrhaft erklären lassen.

Nun habe ich doch geschimpft, solidarisch mit dem Autor Wolfgang Bergmann, der seinen in jeder Hinsicht lesenswerten Bericht einer Spurensuche schließt mit dem Satz:

    »Mein Zorn über viele Schulen und insbesondere die Schulbürokratie und ihren kindfeindlichen Charakter ist groß. Meine Bewunderung für viele einzelne Lehrer und Lehrerinnen ist es auch.« (S. 176)

Jutta Riedel-Henck, 11. April 2005

 

Weiterführende Links:

Mehr Infos zum Buch beim Patmos-Verlag

 

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