»Vorsicht Bildschirm« von Manfred Spitzer ist ein Buch für »Studien-Liebhaber«. Offenbar bedarf es einer Fülle wissenschaftlicher Forschungsarbeiten, um nachzuweisen, dass Fernseh- und Computerkonsum schädliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Menschen haben kann. Doch hege ich große Zweifel, ob gerade jene, welche es betrifft, die Geduld aufbringen, sich durch die teilweise schwer verdauliche Lektüre zu beißen, welche an manchen Stellen so langatmig wirkt, dass ich mich dabei ertappte, gedanklich abzuschweifen und detaillierte Erläuterungen sowie damit verbundene Abbildungen zu ignorieren. Dabei leide ich nicht unter einem bildschirmverschuldeten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, schaue schon seit Jahren kein TV mehr, von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen.
Grundsätzlich gebe ich dem Autor Recht: Falscher und übermäßiger Konsum elektronisch vermittelter Bilderfluten macht krank, seelisch und körperlich. Der Geist verödet, die Seele verarmt, der
Körper erschlafft und verfettet. Das TV-Programm besteht zum größten Teil aus Müll, den ich mir nicht freiwillig ins Haus hole, und gewaltgetränkte Video- bzw. Computerspiele empfinde ich als
verabscheuungswürdig.
In mancher Hinsicht erscheint mir der Schreibstil, bei allem Humor und der Gabe, anschauliche Erklärungen für komplizierte Zusammenhänge zu formulieren, zu einfältig und missverständlich gerade
an Stellen, die einer vielseitigen Beleuchtung bedürfen.
So schließt Spitzer sein Kapitel »Erfahrung und Aufmerksamkeit« mit folgender, in meinen Augen fragwürdiger, Meinung:
»Wie der Blutdruck unterliegt auch unsere Fähigkeit zur Fokussierung der Aufmerksamkeit einem genetischen Einfluss und Umwelteinflüssen, und wie beim Blutdruck hängt es davon ab, was
jeweils passend ist und was nicht. Heute hat der Zappelphilipp in der Schule schlechte Karten. Gerade dann, wenn moderne Unterrichtsmethoden und nicht der klassische Frontalunterricht (einer redet,
die anderen hören zu) zum Einsatz kommen, wenn also Freiarbeit angesagt ist und alle durcheinander reden, kann er sich auf seine Aufgabe nicht konzentrieren, während sein in der Steinzeit eindeutig
todgeweihter Nachbar ganz bei der Sache ist. Unter diesen Umständen kann es sinnvoll sein, der Aufmerksamkeitsfokussierung medikamentös nachzuhelfen. Die Konzentration wird dann besser und das
Lernen ist wieder möglich. […]« (S. 87)
Mit der Droge Bildschirm argumentiert der Autor weniger großzügig denn mit dem (vermeintlichen) Nutzen der Gabe von Medikamenten an unruhige Schüler. Hier gälte es, den Konsum einzuschränken
oder auf einen Fernseher im eigenen Haushalt ganz zu verzichten. Ebenso strikt die Warnung in Sachen Computer:
»Um es noch einmal klar zu sagen (obwohl die Sache nach den ersten sieben Kapiteln klar sein sollte): Wer seinem Kind in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht etwas Gutes tun
will, der kaufe ihm keinen Computer!« (S. 258)
Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate verfälschen das Gesamtwerk. Dennoch tauchen solche Aussagen im Laufe des Buches mehrmals auf, so dass sie als Warnungen ihre Wirkung tun, – nicht unbedingt
im Sinne des Autors. Energisch zur Schau gestellte erhobene Zeigefinger wirken wie Verbote: Der oder die Betroffene denkt weniger über die Ursachen nach, sondern re-agiert mit Trotz, Unverständnis oder
Ignoranz.
Bei allem Respekt vor der Fülle an Informationen, die der Autor zusammengetragen hat, fehlt mir ein tiefenpsychologischer Blick in die Ursachen des Konsums von gewaltverherrlichenden Filmen und
Spielen. Warum neigt der Mensch dazu, sich in seiner Vorstellung freiwillig Gewalt anzutun oder sich in kriegerische Spiele zu verwickeln?
Gewohnheit und Abstumpfung durch den Konsum der »Droge Bildschirm« reichen mir als Begründung ebenso wenig wie die Tendenz der Medienindustrie, sich den Mehrheitswünschen anzupassen im Hinblick
auf finanzielle Gewinne und die Macht über den Markt der medialen Angebote. Dass Menschen bei »Sex and Crime« eher hinschauen und die Medien dieses Phänomen missbrauchen, um die Einschaltquoten auf ihre
Seite zu ziehen, erklärt keineswegs, warum es Menschen gibt, die bei Gewalt lieber wegschauen und sich liebevolleren Bildern zuwenden.
Offenbar dient der Bilderkonsum der Kompensation ungelebter Realität, Gefühle zwischen Wut und Hass gelten in unserer friedliebenden Gesellschaft als verpönt: Asyl finden sie in den unzähligen
Bildschirm-Gewalt-Brut-Kästen ähnlich der sich hochschaukelnden »Geilheit« ungeliebter Pornokonsumenten. Die Rolling Stones brachten es bereits vor Jahrzehnten auf den Punkt: I can’t get no satisfaction.
Fernseher und Computer sind nicht vom Himmel gefallen, sondern eine Erfindung der Menschen, welche offenbar Bedürfnisse zu befriedigen suchen, die ihnen von Natur aus innewohnen.
»Vorsicht Bildschirm«, vom Verlag dtv als »Sachbuch des Monats« tituliert, wirkt wie eine Warnschrift. Das ist in Ordnung. Doch für einen solchen Zweck scheint mir die Ausführung zu lang, theorie- und »studienüberladen«, so dass sich dieses Buch eher für argumentationshungrige Politiker eignet statt eine praxisbezogene Erziehungshilfe für Eltern und Pädagogen zu bieten.
Dass unsere Kinder (und ihre Eltern!) vergleichsweise zu viel vor Fernseher und Computer hocken, ist ebenso bekannt wie die tödliche Wirkung dauerhaften Zigarettenkonsums. Das Saugen an
giftigen Glimmstängeln (oder Nuckeln an Bierflaschen) kompensiert einen Mangel an liebevollem Saugendürfen an der Brust der Mutter in unserer genussfeindlichen Gesellschaft. Und wie auch manch ein
Bücherwurm vor seinem lieblosen Leben davonläuft, um sich in der Phantasie eine sinnvolle Alternative zu schaffen oder seinen Aggressionen Auslauf zu schenken, vermag der Rückzug in Computerspiele und
Fernsehfilme eine Welt ohne Tabus zu eröffnen, deren Grenzen niemand kennt. Ein weites Feld … das lohnt, erforscht, hinterfragt und besonders in tiefenpsychologischer Hinsicht analysiert zu werden.
Meine Zustimmung findet der Autor, wenn er politische Maßnahmen fordert, um der »medialen Umweltverschmutzung« entgegenzuwirken. Bleibt zu hoffen, dass sein Buch von jenen gelesen wird, die am
entscheidenden Hebel sitzen. Eltern und vom Thema Betroffenen wünsche ich ein Werk mit mehr psychologischem Tiefgang, Empathie und einer Fülle praxiserprobter Erziehungshilfen.
Jutta Riedel-Henck, 25. Juli 2006
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