Jutta Riedel-Henck
Entmündigte Eltern
Der Ernst des Lebens beginnt nicht erst mit der Einschulung. Kindheit bedeutet in unserer Kultur, in einen Kampf verwickelt zu sein, der bereits vor der Geburt seine Wurzeln findet: ein
stetes Ringen zwischen Lust und Pflicht, Wollen und Dürfen, Eigensinn und gesellschaftlichen Erwartungen, Gefühl und Verstand, Spiel und Ernst.
Die Angst steht Kindern und Eltern ins Gesicht geschrieben. Angst, aus der Rolle zu fallen, bestraft zu werden bei Grenzüberschreitungen, aber auch für ungewöhnliche Zurückhaltung und
Schüchternheit. Ein Maß liegt in der Luft, ein Maßstab, der auf den Punkt zu treffen sei, da jede Art von Abweichung als krank gilt oder irgendwie komisch, nicht so ganz in Ordnung.
Die Kinderseelen verstecken sich hinter dicken Mauern und Panzern, ihre Eltern fördern das Versteckspiel aus Angst, um schließlich dafür angeklagt zu werden, dass sie Angst haben, pure
Angst vor dem Versagen als Erzieher ihrer Kinder, ihrer Seele und damit der eigenen.
Im Wertmaßstab gilt die Erziehung im Elterhaus weniger als die durch geschulte und studierte Erzieher und Lehrer. Eine tiefe Kluft zwischen pädagogischem Fachpersonal und einfachen Menschen
verhindert den freundschaftlichen Austausch all jener, die mit Kindern leben und arbeiten, als sei dies Ausdruck für die Gespaltenheit von Herz und Kopf, Fühlen und Denken, Seele und Geist. Beides in
Einklang zu bringen, bedarf eines regen Gespräches zwischen den Extremen: den geistig Verarmten und den seelisch Verwahrlosten.
Dass viele Eltern dazu neigen, die Verantwortung für ihre Kinder abzugeben, liegt nicht alleine in ihrer eigenen »Schuld«. Sich als Einzelwesen gegen herrschende Meinungen, Bräuche und
Gewohnheiten durchzusetzen, verlangt vor allem Mut zur Einsamkeit, denn Außenseiter, wie und warum auch immer, sind unbeliebt. Eigenen tief sitzenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die den Erwartungen
und Vorstellungen vom allgemein gepflegten Elternbild widersprechen, weckt nicht selten ein ganzes Rudel »schlafender Hunde«: das verdrängte Kind, die verpackte Seele, unterdrückte Triebe, Wut und Hass
gegenüber allem Gefühlvollen, verbunden mit der Angst, die Kontrolle und Beherrschung seelischer Regungen zu verlieren.
Ängste fördern die verbreitete Mentalität des Draufankommenlassens im Sinne der abwartenden Haltung unter dem Motto: Irgendjemand wird das Kind schon schaukeln.
Jene, die sich kümmern, da sie das Wimmern und Schreien der losgelassenen Kinder nicht ertragen, können es den Verantwortungslosen allerdings selten recht machen. Ein Streit, ob
ausgetragen oder im Verborgenen schwelend, ist vorprogrammiert.
Lehrer, Erzieher, Ärzte werden von Eltern zur Verantwortung gezogen oder gar angeklagt, wenn sie ihrer »Aufsichtspflicht« nicht nachkommen oder »Fehler« begehen, in der naiven Annahme,
geschulte Pädagogen seien vollkommene Perfektionisten in Sachen Erziehung und balancierten jeden »Mangel« durch ihre Kompetenz aus.
Durch Überforderung und unrealistische, überhöhte Erwartungen kommt es leicht zu pauschalisierten Angriffen gegen »die« Lehrer, »die« Schule, »das« System, »die« Gesellschaft, »den« Staat
– so wie umgekehrt: »die« Eltern, allen voran jene, deren Kinder auf irgendeinem Gebiet aus dem Rahmen fallen, um den überforderten Pädagogen den berühmten Tropfen zum Überlaufen des gefüllten
Fasses zu liefern und in der seelischen Erregtheit als Sündenbock für bis dahin verschwiegene Konflikte und Unstimmigkeiten missbraucht zu werden.
Statt immer wieder und so oft wie möglich zu fragen, ob es nicht die Form ist, die der menschlichen Vielfalt zuwiderläuft, muss die Individualität und Besonderheit jedes Einzelnen auf der
Strecke bleiben: selbstverständlich, als sei jeder von uns in der Lage, sich in seinem Wesen grenzenlos zu verändern, beschneiden und jeder Anforderung widerstandslos anzupassen.
Der Angepasste wird gefördert, gelobt, gepflegt, der Unangepasste behandelt und kritisiert wie das Unkrautpflänzchen im Rübenacker: entwurzelt oder vergiftet, auf jeden Fall aber: aussortiert.
Der einzelne Mensch erfährt seine Mitmenschen selten als Zusammenschluss ebenso einzelner Menschen, wie er sich selbst empfindet, sondern vielmehr als undurchschaubare, anonyme potenzielle
Gefahr, deren Macht eine magische Wirkung auf ihn ausübt. »Dagegen bin ich machtlos« oder »Der kleine Mann kann da ohnehin nichts ausrichten« sind verbreitete Ausrufe resignierter Opfer, die sich selbst
für schwach, nutz- und wertlos halten. Statt sich auf den Weg zu machen, »die« Mächtigen kennen zu lernen, den Dschungel undurchschaubarer Unterdrückungsmechanismen zu erkunden, pflegen sie ihre
abwartende Haltung und damit Gefühle der Frustration, die unentwegt einen Ausweg suchen – und finden.
Meckern, motzen, pöbeln ... das Klagelied der deutschen Nation. Die Kultivierung des hässlichen Ausdrucks erfährt ihren (scheinbaren) Gegenpol in der »Heile-Welt-Musik«, von Ausgeglichenheit,
Gesundheit und Lebensnähe kann in beiden Extremen nicht die Rede sein.
Was ist zu tun?
Die Extreme bedürfen des Rückzugs aus den Grenzgebieten. Jene, die unter einer Überbetonung des Geistes leiden, indem sie das Leben, das Experiment, die Improvisation vernachlässigen, ihre Gefühle
intellektuell beherrschen und kontrollieren, benötigen dringend Spielräume für spontane Bewegung, während die Verspielten, ewig Kindbleibenwollenden ihren Geist brauchen, um das Übergewicht seelischer
Getriebenheit auszugleichen.
So höre und lese ich immer häufiger, dass Eltern nach einer Förderung ihrer hochbegabten Kinder suchen, um deren Fähigkeiten im Lesen, Rechnen, Denken ... zu stärken und auszubauen. Ich
bin allerdings der Ansicht, dass eine Begabung gerade keiner besonderen Förderung bedarf. So habe ich mich z. B. auf den Gebieten meiner persönlichen Begabungen ohne Lehrer und spezieller Anleitung
ausgebildet. Für das Schreiben reichte dafür die grundlegende Handhabung des Werkzeugs, um mich durch eigene Motivation leiten zu lassen, stets das richtige Material zu finden, an dem ich mich
orientierte, aus dem ich mir Anregungen für eigene Wege suchte. Jede Art von Bevormundung wirkte auf mich äußerst lähmend oder gar kränkend und vernichtend. Vielmehr lernte ich durch Beobachtung und
Horchen, durch Probieren und Herausfordern, durch Handeln in jedem Sinne, um stets die Grenzen meiner Möglichkeiten zu erkennen, die Grenzen schriftlich manifestierter Sprache, und ihr aus dieser
Erfahrung heraus das Leben entgegenzusetzen.
Ein wichtiges Signal für die Übergewichtung extremer Lebensweisen ist das Gefühl. Werde ich z. B. leicht wütend, weil mir nicht gelingt, was in meiner Vorstellung auf Erfüllung wartet, bin
ich gefordert, meine Vorstellung und damit geistige Beherrschung in Frage zu stellen, zu lockern und lösen.
Jeder Mensch spürt, ob er zufrieden ist oder nicht. So gelten z. B viele berühmte Künstler als schwierige Menschen, sie haben Erfolg im Beruf und Pech im Privatleben, leiden möglicherweise an
lebensbedrohlichen Krankheiten, Frustrationen in der partnerschaftlichen Beziehung, entfremden sich von ihren Kindern ... was nicht unbedingt an die Öffentlichkeit gelangt. Der Schein des glücklichen
erfolgreichen Stars wird gepflegt, während die Wirklichkeit des privaten Unglücks wenig Beachtung findet. Nicht selten folgt einer beruflich glorreichen Laufbahn ein tödlicher Skandal, indem die Medien
sich das Verschwiegene zu Nutze machen und sich als Entdecker, Entlarver der Wirklichkeit aufspielen und ihren eigenen Ruhm auf diese Weise fördern (wie es im Privatleben dieser Medienleute zugeht: wer
weiß?).
Dass viele solcher Stars weniger glücklich und zutiefst zufrieden als vielmehr leicht begeisterungsfähig sind, offenbart sich in ihrer Abhängigkeit von einem applaudierenden Publikum. Ihre
Gesichter strahlen vor Freude, wenn die Masse ihnen zuruft, klatscht und voller Hingabe zu Füßen liegt, wenn sie weint oder kreischt, jubelt: Gefühle hinausbrüllt. Sobald die begeisterten Fans und der
Star voneinander getrennt sind, erfolgt die Phase der Ernüchterung und Entwöhnung. Manch ein Witzbold ist ein privater Griesgram, alleine das Lachen oder Belachtwerden ist ihm Nahrung für sein Gefühl des
Glücks. Ohne sein Publikum wäre es aufgeschmissen ... und das, was er im Grunde ist und bleibt: ein einfacher kleiner Mensch.
Zur Zeit des Nationalsozialismus fand der als Kind gedemütigte Adolf Hitler jene Massen, von deren Begeisterungsfähigkeit er sich ernähren konnte, um als großer, starker »Führer« seine Macht
gegen Massen von Juden, Außenseitern, Behinderten ... tödlich zu missbrauchen. Alleine, auf sich gestellt, hätte dieser Mensch wahrscheinlich noch nicht einmal einen Regenwurm schlachten können (Hitler
war schließlich Vegetarier).
Es zeigt sich also, dass nicht erst die heutige Generation von Eltern verunsichert ist, haltlos und unselbständig. In früheren Zeiten, die von manch einem wieder heiß herbeigesehnt werden,
war die Unsicherheit und Unmündigkeit des Einzelnen so stark ausgebildet, dass er das Zusammenspiel von Masse und Führer gar nicht erst zu hinterfragen wünschte oder wagte.
Eine Masse, die aus unmündigen Einzelwesen zusammengesetzt ist, bedarf eines ebenso unmündigen Führers. Welcher wirklich eigenständige Mensch möchte Millionen von Menschen Befehle erteilen
und seine gesamte Zeit damit verbringen, ein Volk zu regieren, das ihn davon abhält, er selbst zu sein, sich individuell zu entfalten?
So zeigt sich z. B. in der Erziehung, dass unselbständige Eltern dazu neigen, ihr Kind unselbständig zu lassen, weil sie die Abhängigkeit benötigen, um sich selbst im Verhältnis Geben und
Nehmen stark zu fühlen. Eine solche Diskrepanz beobachte ich auch bei so genannten Experten der Erziehung, seien sie nun Lehrer, Berater oder Autoren von Elternliteratur. Und gerade jene, die von den
Eltern mehr Konsequenz fordern, erwecken bei mir den Eindruck, dass sie dies gerne und mit Nachdruck immer wieder tun, während sie sich dabei stärker fühlen als die beratschlagten Eltern. Ebenso kommt es
vor, dass intellektuell überbetonte Wissenschaftler die Eltern darauf hinweisen, dass sie zu verkopft seien, dass sie ihre Intuition und Spontaneität vernachlässigten, während sie selbst sich eines
Sprachvokabulares, einer Mimik bedienen, die wenig lebendig und spontan (auf mich) wirken.
Es wird auch gerne von offensichtlichen Perfektionisten darauf hingewiesen, dass Fehler etwas Natürliches seien im Umgang mit Kindern. Die Sprache dient so manchem dazu, einen Schein zu
hegen, der mit seiner inneren, privaten Wirklichkeit schwer in Einklang zu bringen ist.
Wenn viele Eltern nun das Vertrauen verloren haben (oder gar nie gefunden), weil sie die Diskrepanz zwischen Sagen und Leben, Denken und Fühlen spüren, um dies als Anlass zu nehmen, die
Gebote der extremen Experten zu hinterfragen, so halte ich diesen Zustand der Krise für begrüßenswert und sehne mich in keinem Grade zurück in die Vergangenheit.
Die Flucht in Erinnerungen an vergangene Zeiten offenbart die mangelnde Bereitschaft, die Gegenwart zu nutzen und ihr das Beste, die größten Chancen für heute und die Zukunft abzugewinnen.
Statt also unentwegt, immer wieder, von Buch zu Buch, Artikel zu Artikel, Sitzung zu Sitzung ... alles anzuklagen, was heute schlecht ist, sollten wir mit den ewigen Vergleichen zu früheren Zeiten oder
anderen Kulturen aufhören und uns dem widmen, was wir sind, was wir haben, um etwas draus zu machen, ohne mit einem ewig schlechten Gewissen herumzulaufen und die böse Industriegesellschaft anzuklagen,
der wir schließlich angehören.
Ich beobachte im Alltag viele Eltern, die bereit sind, Verantwortung für sich und ihre Kinder zu tragen, von denen allerdings viele Experten nichts wissen können, da sie die Sprechstunden der
Beratungsstellen meiden. Das Los des beratenden (helfenden) Experten besteht darin, dass er gerade jenen begegnet, die ihn aufsuchen, so dass hier ein Verhältnis entsteht von Nehmen und Geben, während
jene, die solche Beziehungen nicht eingehen, unbeachtet bleiben. Wann und von wem erfährt ein Arzt von den Selbstheilungskräften und –fähigkeiten einzelner Menschen, wenn sie ihn nie aufsuchen?
Ist aber der Arzt, der Berater, der Experte von seinem Beruf so beschlagnahmt, dass er im Privatleben nur noch Zeit zum Schlafen und Essen hat, so wird ihm im Alltag kein mündiger Mensch
begegnen können, kein sich selbst heilendes oder gesund haltendes Individuum, da in seinem Leben für solche Begegnungen kein Platz ist: »Ich habe keine Zeit!«
So fordert der Experte, die Eltern sollten sich wieder mehr Zeit nehmen für ihre Kinder, mit ihnen spielen, für spontane Unternehmungen ... während er selbst von einem Termin zum nächsten
hetzt. Brauchen Eltern solche Empfehlungen von einem Experten, der selbst nicht tut, was er sagt? Der gar nicht wissen kann, was er im Geiste festhält und als Richtlinie propagiert? Der seine
Erkenntnisse nicht aus dem eigenen Erleben heraus entwickelt und fördert, sondern aus der Beobachtung, dem Glauben, der Erinnerung an eine fröhliche Kindheit? Kann ein Experte, der sich an der
Vergangenheit orientiert, für die Gegenwart nützliche Lösungen entwickeln?
Jeder Mensch kann nur für sich und seine nächsten der geeignete Experte sein. Der beste Experte in Sachen Erziehung ist daher jener, der sich als Experte überflüssig macht, der auf den Status
»Experte« nicht angewiesen ist, um sein Selbstgefühl zu stärken, der keinen Doktortitel, kein vorzeigbares Diplom benötigt, keinen Lehrstuhl, kein Professorenamt, um das zu tun, wozu er sich wirklich
berufen fühlt. Das schließt nicht aus, dass der wirklich erfahrene, lebensbereite Experte nicht auch als Professor an einer Universität arbeiten dürfte, so lange er folgende Fragen noch aufrichtig an
sich selbst richten mag: Könnte ich mit mir selbst glücklich sein ohne das Amt, den Titel ... verkneife ich mir die Wahrheit aus Rücksichtnahme und Schonung meiner beruflichen Stellung ... kann ich hier
wirklich das tun, was ich für richtig halte ...? Steht mir das Umfeld der Institution zu sehr im Weg? Bin ich ein zufriedener, ausgeglichener Mensch ohne lang gehegtem schlechten Gewissen?
Ich vertraue auf das Expertentum eines jeden und beende deshalb meine sprachliche Exkursion zu diesem Thema – um mich dem Leben zu widmen, von dem hier nicht zu lesen sein kann.
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© 2001 Jutta Riedel-Henck
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