Begegnung ...
Entmündigte ...

Jutta Riedel-Henck

Begegnung statt Erziehung

Gedanken zu einem neuen Verhältnis zwischen
kleinen, großen, jungen und alten Menschen

 

Was haben wir nicht alles für Probleme: eine Welt voller kleiner Tyrannen, unbegrenzter Kinder, wahrnehmungs-, sprach-, verhaltens-, rundumgestörter Zöglinge – Sorgen um Sorgen plagen Eltern, Pädagogen, Ärzte, Omas, Psycho- und sonstige Logen. Berge von Fachliteratur und populär gestalteten Ratgeberbüchern belagern den Markt, ohne dass eine befriedigende Lösung lang gehegter Probleme durch ihre Verbreitung bewirkt wurde.

Wie kommt das? War alles umsonst? Haben wir uns grundlos die rauchenden Köpfe zerbrochen? Hin und her diskutiert, herumprobiert und studiert?

Obwohl es nahe liegt, diese Frage mit ja zu beantworten, möchte ich voller Zuversicht auf die zurückliegenden Fehler blicken. Es ist leicht, Kritik zu üben und deprimierende Reden zu schwingen über all das Elend um uns herum. Mühelos brechen die Menschen ihr Schweigen, wenn es darum geht, einen Mörder zu verurteilen, Kindesmisshandlung anzuklagen oder den Diebstahl materieller Güter aufzudecken. Wer heute eine Tafel Schokolade stiehlt und dabei erwischt wird, erntet nicht selten den lang gehegten Hass anonymer Menschenmassen. Es scheint, als lauerten in allen Ecken selbst ernannte Polizisten auf der Suche nach einem klitzekleinen Fehler, auf dem herumgehackt wird, als sei gerade die erste und damit letzte Atombombe explodiert.

Sind wir ein Volk der Angsthasen und Feiglinge? Dass wir so besessen und penibel darauf achten, auch den winzigsten Fehler zu vermeiden?

Urteile, Wertvorstellungen, Zensuren – kein Kind, das verschont bliebe, mit einem anderen verglichen zu werden, ab- oder aufgewertet, in ständigem Konkurrenzkampf unterzugehen oder draufzuschlagen. Ist das normal? Ein natürlicher Überlebenskampf? Soll ich das zulassen oder gar fördern? Soll ich mich einmischen? Soll ich wegsehen? Soll ich etwas dagegen unternehmen? Aber was? Ich bin doch so klein und kann alleine nichts ausrichten. Soll ich mich mit anderen zusammenschließen? Eine Gruppe für oder gegen etwas gründen? Auf der Straße demonstrieren? Unterschriften sammeln? Geld spenden? Was um Himmels Willen kann ich tun, um diese verkorkste Welt zu retten?

Meine Antwort auf diese Fragen lautet: Tun Sie erst einmal gar nichts! Hören Sie auf, rastlos von Termin zu Termin zu hetzen, leeren Sie Ihren Kopf aus, lassen Sie Ideale Ideale sein und horchen Sie einfach in sich hinein. Wissen Sie eigentlich, was Sie selber möchten? Wonach Sie sich sehnen? Was Sie gut und schlecht finden? Verbringen Sie möglicherweise den ganzen Tag damit, den Wünschen anderer gerecht zu werden?

Aber was haben die anderen für Wünsche? Wissen die anderen, was sie wirklich mögen? Oder haben die anderen nur Wünsche, die die anderen haben?

Wir wünschen uns viel für unsere Kinder. Sie sollen geliebt werden, Anerkennung finden, ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, sich durchsetzen und dennoch fähig sein, sich in Gruppen unterzuordnen. Sie sollen mutig sein, Gefühle zeigen und ausleben dürfen, ihre Eigenart entwickeln, anderen helfen, die in Not sind, Bescheidenheit üben, teilen und vor allem glücklich sein. Unsere Kinder, unsere Zukunft!

»Kinder an die Macht«, heißt es in einem populären deutschen Lied. Von Hoffnungen, Erwartungen und Aufgaben überschüttet, geraten unsere Kinder genau dorthin, wo wir Erwachsenen herkommen: in das Land der verlorenen Kindheit.

Kinder sind einsam. Während Eltern nur das Beste für ihr Kind wünschen, ihm geben möchten, was sie selber einst vermissten, verbeißen sie sich allzu leicht in wirklichkeitsfremde Vorstellungen. Wie z. B. soll ein Kind selbständig werden, wenn seine Mutter sich nicht traut, eine eigene Meinung zu vertreten? Wie soll ein Kind sich geliebt fühlen, wenn sein Vater nicht wagt, eigene Gefühle zu offenbaren? Wie sollen Kinder zu selbstbewussten Erwachsenen heranreifen, wenn ihre Eltern unentwegt damit beschäftigt sind, ihr eigenes Selbst zu verleugnen, indem sie danach trachten, den Vorstellungen ihrer Vorfahren und Mitmenschen gerecht zu werden?

Lassen Sie ein Kind nur lange genug mit seinen Sorgen allein, dann wird es schon aus eigener Kraft damit umzugehen wissen. Die so genannte antiautoritäre Erziehung, das »Laisser-faire« (treiben lassen), habe ich, sofern überhaupt von Erziehung gesprochen werden kann, am eigenen Leibe erlebt. Ich wurde früh selbständig, das ist wahr. Ich lernte, meine Ängste zu vertuschen, Trauer zu unterdrücken, mit alledem irgendwie alleine fertig zu werden, während meine Eltern ihren Beschäftigungen nachgingen. Freundinnen beneideten mich um unseren freizügigen Lebensstil, und ich beneidete meine Freundinnen um ihre keifenden Mütter und spießigen Väter, das pünktliche Mittagessen am Familientisch, wo die frisch gewaschenen Hände neben den Teller gehörten, nicht geschmatzt wurde und jeder seinen eigenen Serviettenring mit eingraviertem Namen besaß. Eines aber hatten wir gemeinsam: Glücklich waren wir alle nicht!

Und wie lautet die Erziehung der heutigen Zeit? Kinder brauchen Grenzen, Kinder brauchen Rituale, Kinder brauchen ihre Großeltern, Kinder brauchen Ruhe, Kinder brauchen Geheimnisse, Kinder brauchen Erfahrungen, Kinder brauchen Sinnlichkeit, Kinder brauchen Bewegung, Kinder brauchen, brauchen, brauchen ...

Mein Gott, da bekomme ich als Mutter ein tief schlechtes Gewissen! Mag ja sein, dass mein Kind das alles braucht. Aber wie soll ich ihm das geben? Und in welcher Reihenfolge? Was ist wichtiger? Was passiert, wenn ich das eine mal vergesse? Oder wenn ich nicht dazu komme? Mehr und mehr gerate ich in die Wirren unerfüllbarer Ansprüche. Mehr und mehr verbeiße ich mich in die Vorstellung, eine geborene Versagerin zu sein, nicht zu taugen fürs Elterndasein, verdorben von was auch immer.

Aus allen Ecken schießen uns die Bilder einer angeblich heilen Kindheit in Augen und Ohren. Liedermacher singen von glücklichen Kindertagen, starken Mädchen und duftendem Weihnachtsgebäck, im Fernsehen sprechen geduldige Moderatoren mit gut gelaunten Kindern über brisante Themen, in Büchern und Zeitschriften berichten verständnisvolle Pädagogen von ihren erfolgreichen Erziehungsmethoden – nur die aktuelle Nachricht von einem weiteren Fall der Kindestötung lässt uns schaudern. Brauchen wir nur die bösen Mörder zu fassen, damit wir unsere Ruhe haben?

Wer genau beobachtet, wird rasch merken, dass Erwachsene häufig mit kindlichen Verhaltensweisen reagieren, wenn sie verärgert, wütend und verletzt sind. Während ein Kind die Bauklötze verflucht, weil sie immer wieder umfallen, beschimpft der Erwachsene den Fahrer eines Autos, das er nicht überholen kann, weil die Gegenfahrbahn blockiert ist. Schuld sind immer oder meistens: die anderen. Auch Trotzreaktionen sind in fortgeschrittenem Alter keine Seltenheit. So sind mir eine Reihe Vierzig-, Fünfzig- oder Sechzigjähriger bekannt, die mit Vorliebe das Gegenteil von dem tun, was sie eigentlich möchten: Sie kommen zu spät, damit es nicht auffällt, wie oft sie an den nahenden Termin denken mussten, sie vergessen Verabredungen, um dem Wartenden ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sie beantworten Fragen erst nach mehrmaliger Aufforderung, um mit ihrem Vielbeschäftigtsein zu prahlen, und so weiter.

Ich möchte mir nicht anmaßen zu behaupten, dass Kinder grundsätzlich nicht berechnen, was sie tun. Schon das Verhalten drei- oder vierjähriger Kleinkinder erweckt bei mir den nachhaltigen Eindruck, dass sie durchaus fähig sind, die Reaktionen ihrer Mitmenschen im Voraus einzuschätzen und entsprechend absichtsvoll zu handeln. Auch in dieser Hinsicht kann ich keine bedeutenden Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen feststellen. Lediglich die Zeit vermag die Erfahrungen zu mehren, den Speicher im Gehirn zu füllen, und Kindern fehlt zunächst die Übung, ihr Gegenüber zu täuschen und ihm etwas vorzugaukeln.

Möglicherweise rufe ich durch meine einfachen und naiven Sichtweisen eine Reihe von Kinderpsychologen auf den Plan, die mit Studien, Statistiken, Untersuchungen, ihrer jahrzehntelangen Berufserfahrung dagegenhalten und mich auffordern, meine Behauptungen durch konkrete wissenschaftlich erwirkte Ergebnisse zu untermauern. Solchen Ansprüchen kann und will ich gar nicht gerecht werden.

Als Mutter und Erwachsene, die selbst einmal Kind war, bin ich stets gefordert, aus eigenem Antrieb zu beobachten, erleben, erfahren, kombinieren, diagnostizieren, probieren ... so dass mir der Weg über »wissenschaftlich« gesicherte Fakten und Erkenntnisse durchaus vermeidbar scheint. Eine vom einzelnen Menschen unabhängige, allgemeingültige Wissenschaft existiert in meinen Augen ohnehin nicht. Das Wissen jedes Einzelnen kann immer nur Ergebnis eigener Erfahrungen sein, während sich Wissenschaft heute vorwiegend über den Glauben vermittelt, indem angebliche Spezialisten etwas behaupten und angebliche Laien ihr Leben danach ausrichten.

Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Experten und Dummköpfen äußert sich besonders auffällig in den Beziehungen von alten und jungen Menschen. »Das verstehst du noch nicht! Dafür bist du noch zu klein!« – »Später einmal wirst du mir dankbar sein, dass du heute so viel lernen darfst!« – »Wenn du so alt bist wie ich, wirst du es auch mit anderen Augen sehen. Warts nur ab!«

Ach ja, was für Erkenntnisse. Und die Erkenntnisse der Alten, die ja immer älter sind als irgendwer, sollen den Jungen Grund genug sein, diese als pure Weisheit anzuerkennen und entsprechend zu leben.

Natürlich sind jetzt jede Menge Einwände angebracht: Kleine Kinder bedürfen nun mal des Schutzes ihrer Eltern, sie können nicht von Lebensbeginn an aus eigenem Erfahrungsschatz schöpfen und alleine für sich sorgen. Dem möchte ich ganz und gar zustimmen. Abhängigkeiten und Hierarchien bestehen, sind notwendig und lebenswichtig.

Die Frage ist nur: Wie lange und auf welche Weise müssen sie Bestand haben? Wann muss ich bereit sein, Freiräume zu erweitern? Wie kann ich meine Macht gegenüber den Jüngeren ausüben, ohne sie zu missbrauchen?

Fragen über Fragen. Und für jede Frage ein neues Buch. Wer es heute so richtig richtig machen will, der braucht bereits eine ganze Bibliothek voller Elternliteratur und vor allem: viel Zeit zum Lesen. Kinder stören da nur ...

Na also: Gute Eltern sind Eltern ohne Kinder. Eltern, die zu viel Zeit mit ihren Kindern verbringen (ohne lesend und redend zu studieren), wären demnach schlechte Eltern. Das klingt absurd? Ich finde, diese Aussage bringt, wenn auch erschreckende, Wahrheiten ans Licht!

Dass unsere Kinder heute unentwegt danach schielen, alles am besten zu können, das Beste vom Besten zu besitzen, stärker zu sein als der Rest der Welt, lernen sie nicht erst in der Schule. Konkurrenzkämpfe bestimmten das Leben ihrer Eltern lange bevor sie Kinder bekamen. Sie selbst beneideten ihre Freundinnen einst um die reiche Kleiderausstattung ihrer Barbiepuppen, wurden gehänselt, weil sie dick oder pummelig waren, auf einem verrosteten Fahrrad fuhren oder in unbequemer Sonntagskleidung am Kaffeetisch von Oma und Opa sitzen mussten, während die Nachbarskinder auf Bäume kletterten oder Matschkuchen backten.

Mit großer Verwunderung beobachte ich immer wieder, dass erwachsene Menschen von ihrer Kindheit schwärmen, von der Schulzeit und den kleinen bis größeren Streichen, als hätten sie nie darunter gelitten. Heitere Reden werden geschwungen, witzelnd über die Vergangenheit herziehend, bis die Gesprächsthemen zu versiegen drohen im Ernst der Gegenwart. Ah ja, Jürgen ist heute Referendar, Fred arbeitslos, und Sabine lässt sich gerade umschulen. Neue Prüfungen stehen bevor: zweites Staatsexamen, Bewerbungsgespräche, Gesellenarbeiten – und wie sie da so sitzen, lüftet die Vergangenheit ihr altes Kleid: Mit Hingabe wird nun über Zensuren gesprochen, Leistungen, das Büffeln vor Klausuren, während die Mimik der Erzählenden ängstliche oder gar unterwürfige Züge annimmt. Und das sollen unsere Eltern von morgen sein? Unsere Lehrer?

Kopfschüttelnd verließ ich am Ende meiner Studienzeit die Universität. Gestern noch Schüler, heute Pädagogikstudent, morgen schon Lehrer: eine Traumkarriere? Welcher Weg liegt zwischen Lernen und Lehren? 10 Semester lesen, reden, Referate zusammenschreiben, ein paar Wochen in sozialpädagogischen Einrichtungen aushelfen, Unterricht beobachten, unter Aufsicht vor der Tafel stehen und Lerninhalte vortragen ... schließlich: Prüfungen, Prüfungen, Prüfungen! Abgenommen von Lehrern, Oberlehrern, Direktoren, staatlich anerkannten Spezialisten in Sachen Erziehung ...

Die Prüfungen des banalen Lebens bleiben aus, »da stehen wir drüber«. Und all die Nicht-Studierten, ohne Titel, ohne staatliche Anerkennungsurkunde sind gezwungen, von den Experten zu lernen: Schulpflicht.

Verblüfft und traurig zugleich vernehme ich täglich die Wertvorstellungen meiner Mitmenschen. »Ich hätte das Zeug zum Professor!«, hörte ich einen Fotoverkäufer in die Menge seiner Kunden brüllen. »Obwohl mein Schulfreund schlechter war in Mathe als ich, ist er heute Regierungsrat, verdient prächtig und ist vollauf zufrieden!«, jammerte der Verkäufer mir ein anderes Mal vor. Verlierer und Gewinner – immer das gleiche Spiel.

Ein ganzes Leben lang ließe sich wohl so verjammern, wenn jeder immer auf das schielte, was er selber gerade nicht hat. Also sage ich: Konzentriere dich einmal auf das, was du hast! Mach was draus! Denk doch mal nach, was du kannst, gerne tust, und baue es aus! »Ja, aber ...«, heißt es dann oft. Mit solchen Abers könnte ich auch ganze Bücher füllen. ABER was hätte ich davon? Was hätten Sie davon? Von einer ewig jammernden Schriftstellerin? Würden Sie das gerne lesen?

Na also. Das Aber beiseite und kurz und schlicht zur Sache.

Wir brauchen doch, wir müssen doch, wir sollten doch ... und was ist mit Ihnen? Ganz alleine? Was brauchen Sie? Nicht gestern, nicht morgen – was brauchen Sie jetzt?

Wenn Sie noch länger darüber nachdenken, werden Sie es nie erfahren.

Welche Probleme haben wir heute wirklich? Arbeitslosigkeit? Geldknappheit? Zunehmende Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen? Umweltverschmutzung? Kriege?

Schauen Sie in die Zeitung, die Nachrichten im Fernsehen, da gibt es immer Grauenvolles zu sehen. Und es wird nicht weniger werden, wenn Sie weiterhin danach trachten, das Grauenvolle zu bekämpfen. Das Bekämpfen der Arbeitslosigkeit, Bekämpfen von Krankheiten, Bekämpfen von sozialer Not und Ungerechtigkeit – immer nur kämpfen. Wundert es da, wenn die Zukunftsperspektiven ausbleiben? Wenn das Leben nur noch aus Kämpfen besteht?

Ich bin mit Sicherheit keine beschönigende Optimistin und möchte nicht dazu aufrufen, Konflikte einfach unter den Teppich zu kehren und leichtsinnig draufloszuprassen. Dennoch sollten wir uns zugestehen, dass wir überfordert sind im Lösen lang gehegter und ererbter Probleme, die niemand von uns alleine zu verantworten hat. Es kann und darf nicht die Aufgabe elitärer Spezialisten sein, allgemeingültige, auf das »ungebildete Volk« übertragbare Patentrezepte zu erfinden. Wir brauchen auch keine neue Arbeiterbewegung, geschlechtsorientierte Gruppierungen zur Gleichstellung von Mann und Frau oder strengere Gesetze gegen Mord und Totschlag. Alles was wir brauchen, haben wir längst in der Tasche. Wir müssen einfach nur innehalten und zulassen, es auch zu entdecken: unsere ganz eigene, individuelle Kraft und Fähigkeit, etwas ebenso Eigenes zu entwickeln und zum Leben zu erwecken.

 

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© 2001 Jutta Riedel-Henck