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Leserbriefe
Gewalt

»Vorher in die Augen sehen« – Gedanken zu Erfurt

von Karl Gebauer

 

Vier Tage nach der Tat spreche ich mit den Schülerinnen und Schülern einer vierten Grundschulklasse über die Morde in Erfurt. Die Kinder sind erstaunlich gut über die Ereignisse informiert. Das Gespräch hat mehrere Schwerpunkte.

»Wie kann einer so etwas tun? Der müsste doch an die Kinder denken, an die Kinder der Lehrer, die er erschossen hat. Die haben jetzt keinen Vater oder keine Mutter mehr. Der kennt die doch gar nicht. Die haben doch nichts damit zu tun.«
Es wird Empathie bei den Schülerinnen und Schülern sichtbar, die sich auf die nahen Menschen der Opfer bezieht. Später wird im Rahmen der Fernsehberichterstattung der Brief der 16-jährigen Tochter des erschossenen Polizisten verlesen. Das ist die Perspektive meiner Schülerinnen und Schüler, die sie zunächst einnehmen, die Sichtweise betroffener Kinder, deren Vater oder Mutter ermordet wurde.

Sie erleben auch ein Gefühl von großer Ungerechtigkeit. »Wie hier Unschuldige zu Opfern werden«, meint nachdenklich ein Junge. »Auch wenn man Lehrer nicht mag«, sagt ein Mädchen, »das ist doch kein Grund sie zu erschießen.«
Konzentriert diskutieren sie auch andere Fragen. Warum kein Mensch bemerkt haben soll, dass dieser Schüler so eine Tat vorbereite, das können sie nicht verstehen. »Wenn sich Eltern um ihr Kind kümmern, dann müssen die das doch merken«, das ist eine Aussage, die von allen geteilt wird.

Dass der Mörder Killerspiele gespielt habe, das scheint für sie nicht so entscheidend zu sein. Aber Waffen sollte man nicht einfach so zu Hause aufbewahren können, das betonen sie. Die Eltern hätten doch merken müssen, dass ihr Sohn nicht mehr zur Schule gegangen sei. Es tritt Stille ein.

Ein Junge hatte mehrmals versucht, in das Gespräch hineinzukommen. Er brach aber in dem Moment, in dem ich ihn um seinen Beitrag bat, immer wieder ab. Er rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. In die Stille hinein spricht er holpriger als ich es jetzt formuliere: »Wenn der zu Hause so tun musste, als ob er seine Eltern gern hätte, als ob er ein guter Schüler wäre, dann hätte er die Schule nicht schwänzen dürfen. Aber vielleicht hasste der seine Eltern. Aber das durfte er nicht zeigen. Vielleicht hasste er die so, dass er sie umbringen wollte. Aber das durfte er ja nicht, weil er so tun musste, als ob er sie gern hätte. Vielleicht hat er seine Lehrer gemordet, weil er die Eltern nicht morden durfte.« Totenstille herrscht in der Klasse.
»Wenn man von der Schule fliegt, bringt man keinen um«, sagt ein Mädchen leise vor sich hin. Dann guckt es in die stillen Gesichter der anderen Kinder und wiederholt: »Deswegen bringt man keinen um!«

Wir finden keine Antwort. Aber die Kinder ahnen etwas von der Tiefe des Grundes, auf dem eine Antwort gesucht und vielleicht gefunden werden müsste. Sie sind für mich dichter dran an den Wurzeln des Geschehens als viele Politiker, die in ihren politischen Gebetsmühlen die wahren Aufgaben, die zu beackern wären, in den nächsten Tagen zermahlen werden, dass kaum noch ein Körnchen übrig bleiben wird.

»Hätte es eine Alternative zu der Tat geben können?«, frage ich meine Schülerinnen und Schüler. »Ja«, sagen sie und sind sich erstaunlich sicher. »Wie hätte die ausgesehen?«, frage ich erstaunt. »Es hätte nur ein Mensch dem Jungen in die Augen gucken müssen«, sagt wieder ein Mädchen. Alle nicken.

Und dann kommt die Geschichte, die wir alle aus dem Fernsehen kennen. Als der Lehrer Heise ihm gesagt habe, er können ihn erschießen, aber dabei solle er ihm in die Augen sehen, da habe der Mörder nicht mehr schießen können.

Wenn das mit den Augen noch während der Tat funktionierte, wie viel größer sei die Chance gewesen, wenn ihm vorher jemand in die Augen geschaut hätte.

 

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Wissenschaftliches, interdisziplinäres Netzwerk zur Förderung und Verbreitung fachübergreifender, zukunftsorientierter Erkenntnisse im Bereich Erziehung und Bildung, das helfen will, eine Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Praxis.
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