Eskalierende Gewalt in den Schulen der Nation
von Hartmut Barth-Engelbart
E(h)rfur(ch)t
oder warum beim Aufstoibern alter Werte ausgediente Feldwebel die Schulhöfe befrieden
Auf Wahnsinn folgt Wahnsinn folgt Wahnsinn. Weder das Waffengesetz, die Videospiele noch die Schützenvereine sind der Kern des Problems. Diese Problemchen werden eher noch von OberbürgermeisterInnen und
Landräten gehätschelt und als eventuelles Hilfspolizeireservoir gepflegt und stärker subventioniert als Jugendzentren und Schulsozialarbeit.
Konsequenz: Bundesgrenzschutz auf den Campus, Polizeiwachen auf den Schulhof, sponsored by Mc Donalds und PepsiCola oder BindingLager oder Karamalz. Kaum ein Mensch – außer dem sich zurückziehenden
Ruppert von Plottnitz vielleicht – fragt jetzt mal öffentlich nach den Ursachen oder weist darauf hin: Wie man in den Wald schießt, so schießts auch wieder raus.
Jetzt geht (wie damals nach Freising) ein Ruck durch die Nation: SchülerInnen müssen wegen der Nestwärme enger zusammenrücken, wo 33 reinpassen, passen auch 35 rein, im Hauruckverfahren werden
Schwachstellen in der Auslastung der Lehrkörper und so ungenutzte Zeitguthaben gesucht und gefunden, Einsparpotenziale durch Stellenrücken, Optimierung der Betreuungsdichte bei SozialpädagogInnen und
SchulpsychologInnen (Beratung per Internet), Einrücken von Zivilschutzreserven auf die Schulhöfe, und es werden jede Menge Trostpflästerchen und Notverbände herausgerückt, Haushaltstitel werden
kurzfristig verrückt und nach Beendigung der Trauerveranstaltungen wieder zurechtgerückt. Und bereits vollzogene oder bevorstehend beschlossene Kürzungen im Bereich der Jugendhilfe, der
Jugendsozialarbeit etc. werden schnell übertüncht, getarnt aus der Schusslinie genommen und ins rechte Licht gerückt.
Jahrelang wurde offiziell gegen die »Kuschelpädagogik« gehetzt, die Gegner des Zensurenterrors verteufelt, sozialdarwinistische Ausleseverfahren heilig gesprochen, das Zentralabitur möglichst schon in die
vierte Grundschul-Klasse vorverlegt, das Grenzensetzen gepredigt, wo durch kultus-bürokratische Will-Kür und -Plichten, durch Arbeitszeitverlängerung und -verdichtung, durch Stellenkürzung und
Paukverplanung längst die dadurch immer enger gezogenen Grenzen LehrerInnen und SchülerInnen strangulieren. Sich für SchülerInnen Zeit nehmen, heißt heute »Zeit verlieren«!! Und wer sich dafür die Zeit
stiehlt, der begeht ein Dienstvergehen. Diebstahl auf Kosten der Kollegen und des Staates. Wie sollen SchülerInnen zu Menschen Vertrauen gewinnen, die keine Zeit für sie haben, die nicht zuhören können,
die ihnen nichts zu sagen haben, weil sie ihre Probleme gar nicht kennen, die sie sanktionieren, bestrafen, bloßstellen, erniedrigen, von oben herab be- und verurteilen, benoten und noch nicht einmal
danach fragen, nicht wissen, was das bewirkt (und das schwerpunktmäßig in den Schulstufen, wo die Pubertätsprobleme nach allen Seiten – und nach innen – ausschlagen), Menschen, die die Folgen ihres Tuns
verdrängen oder um sie wissen und es trotzdem tun oder gerade deswegen: Das ist Zucht mit extrem Abhängigen. Und das ist die Regel, die ganz harmlos wirkende und unauffällige normale Regel. Die mit ihrer
vernichtenden Wirkung (noch immer) in jedem Schulwinkel haust. Dieses Regel-Räderwerk wird tradiert, seit Jahrhunderten, nur die alltäglichen Blutspuren sind nicht mehr so alltäglich. Prügelpädagogik mit
neuer Fassade: die nichtprügelnde Prügelpädagogik wird nicht gelehrt, sie wird eindressiert, nicht auf den Paukböden schlagender Verbindungen (auch die sind wieder im Kommen!), sondern in den
Dressurpaukveranstaltungen der Lehrerausbildung (besser: Pädagogikaustreibung, schulpolitischer Exorzismus) in überfüllten Groß-Seminaren und Vorlesungen – ausgelastet bis zum letzten Notstehplatz,
betriebswirtschaftlich durchkalkuliert, hier wird diese nichtprügelnde Prügelpädagogik am LehrerCorps durchexekutiert.
Gibt es eigentlich noch Professoren, die ihre Studenten kennen können? Wann kommt der Anschlag auf den AfE-(uni)turm, das Massaker im IG-Farbenhaus, das Blutbad am Niederurseler Hang? Ich kenne eine Reihe
von Studenten verschiedenster Fachrichtungen und verschiedenster Fastabschlüsse, die schon subjektiv vor der Wahl standen: Springen oder Sprengen? Wer kann sie aufhalten? Kann sein, dass die Entscheidung
bereits in der kostengünstigeren Großgruppe in der Kindertagesstätte gefallen ist, in der 32er Grundschulklasse (eine 23er ist auch schon viel zu groß) oder an der Türe des Lehrerzimmers, die aufging und
eine entnervte Stimme nur etwas gereizt krächzte: »Jetzt habe ich aber gar keine Zeit«. Klar, war ja große Pause und die Arbeitsblätter waren noch nicht kopiert, nicht genügend Bücher für die ganze
Klasse und die Koordination noch nicht fertig und zwei Eltern am Telefon und der Kaffee schon kalt. So werden Opfer Täter und Täter Opfer. Und dann Herr Schröder, sind es »faule Säcke«. Wobei der Stoiber
das Gleiche denkt, es aber vor der Wahl nicht sagt. Und die Frau Hohlmeier ist eine Wolff im Schafspelz und hat zur Zeit etwas Kreide gefressen aus Solidarität mit dem Lehrkörper. Achtung vor
Menschenleben? Schießen unsere Schnellen-Eingreif-Trupps etwa aus Wasserpistolen, werfen unsere Tornados etwa nur Kalorienbomben ab und sind die Raketen an den Tragflächen nur Stukatour am Märchenhimmel?
Hat ein deutscher Leopard heute keine Reißzähne mehr wie vor 60 Jahren der deutsche Tiger? Das alles ist Reality-TV und kein Video-Spiel. Und diese »Mission« politisch abzustellen wäre als aller erster
Schritt durchaus nicht »impossible«. Wer diese Real-Gewalt-Videos abstellt, der rettet zigfach mehr als 17 Menschenleben. Und gibt den Youngsters eine andere Orientierung.
Auf Wahnsinn folgt Wahnsinn folgt Wahnsinn: Wie man in den Wald schießt, so schießts auch wieder raus.
Mit leicht getanen Federstrichen ihrer Büttel entscheiden die Kultusbürokraten und Finanzminister, die Kaputtsparer von CDUFDPSPDGRÜNENPDS......; die Nichtabnehmer der Produkte aus der
Ausbildungs-Zuliefer-Industrie, über Biographien, über das Leben (und den Tod, auf Raten mit Drogen oder per Selbstmord, auch auf getunten Rädern) zigtausender SchülerInnen, über Elternschicksale und
auch über die Schicksale vieler Täter-Opfer, vieler Lehrer/innen, die es gelernt haben, nicht gegen inhumane Arbeitsbedingungen zu streiken, sondern eher als Vollzugsbeamte nach unten zu treten.
Das folgende Gedicht entstand vor ca. 6 Jahren. Der Autor weiß, wovon er spricht. Er ist selbst Lehrer.
Schulkampf:
Der Aufschrei der Leistungsbüttel hallt durch den Blätterwald kreischt aus der Röhre flimmert exotisch
über den Bildschirm
Die Welt geht unter! 5 US-Soldaten und drei deutsche sind in Afghanistan gefallen nach Tausenden von Bomben
fast ein Wunder nur fünf und drei
Der Aufschrei schrillt nach Weltbilduntergang nicht vorne wo im Irgendwo Exotistan Nein. Das Schreien gilt
der Nahkampf tobt ganz nah und alltags gellend an
der Heimatfront
Aus- und nachgerüstet mit den schwersten Waffen Notenbüchern Zeugnisformularen und Bußgeldtorturnistern
und neuen Wolfsgesetzen ziehen sie wochentäglich an die Front Schulkampf
Schulhöfe sind Selektionsrampen geblieben die deutsche Industrie Norm DinA links, zwo, drei, vier
hat sich schon vor der Schädelform- vermessung als viel zu starr erwiesen um den Arbeitssklavenmarkt den weißen, grauen, schwarzen bedarfsgerecht
und passgenau zu füllen
der Kinderkopf als Bildungsziel betrommelfeuert und behämmert gedrückt gepresst gerichtet be- und einge-
trichtert bis er passt
Anforderungsprofile kreischen sich cd-gesteuert in der Schuldrehbank durch Fleisch und Blut
durch Bauch und Herz und Hirn durch Restrückgrad und Knochenmark
wo gehobelt wird da fallen Spähne
ohne Handwerk keine Industrie das Waffen-High-Tech braucht das Waffenhandwerk das Schlachtfeld Schule
braucht den Unteroffizier den Korpsgeist und den Standesdünkel den Fundamentalismus aus der Mittelschicht
und das Niveau schulmeisterlicher Hirne – im Durchschnitt einmeterneunundsiebzig plus Ortszulage
über Meeresspiegel- bestimmt am Horizont das Ende der zivilgebombten Erdenscheibe Der Mittelpunkt des Universums befindet sich im Zentrum eines Pausen-Kaffeebechers
bisweilen auch im Strudel einer Tasse lauwarmen Hagebuttentees
Das Wohl des Kindes auf den Lippen stürzen sich Bataillone von Durchgreifkommandos ins Getümmel
auf dem Schulschlachtfeld nahkampfgeschulte Einzelkämpfer zwischen den Fronten im Niemandsland aus harmlosen Instrumenten werden in ihren Händen mörderische Waffen
sie töten mit Blockflöten selbst die Gitarre wird zur Knarre nur wer sich wehrt und sträubt wer den Befriedungseinsatz stört wird angeschossen wahlweise aus-
und eingeschlossen und betäubt so gibt es auf dem Schulschlachthof kein Blutbad mehr und keine Toten der Schlagstock ist verboten keine Striemen auf den Pfoten
keine Kopfabnoten Strafexpeditionen Standgerichte erwiesen sich als ungeeignet den Widerstand im Niemandsland zu brechen Das Lehrerfreicorps hat gelernt
mit ethisch einwandfreien Federstrichen den Gegner zu entwaffnen Entwicklungsstandsberichte ersetzen Standgerichte Entwicklungshilfsaktionen statt Strafexpeditionen
Beratung gibt es statt Verhöre statt Spionage Hausbesuche Arrest wird zum sozialen Training und Straf- und Zwangsarbeit zum Förderkurs
Der Blockwart wurde schon vor Jahren zum Kontaktbereichsbeamten umbenannt gestrichen
und jetzt wieder eingeführt als Schützenvereins-Ehrenamt damit die Menschen sichrer leben
Und sage keiner dass sich an der Front nichts täte Alles drängelt zu den Waffen alle sind sie angetreten
»Rührt euch!« ein Ruck geht durch die Reihen und alle haben sich gerührt
Bisweilen kann man spüren, sehen, hören wohin uns dieses Rühren führt
1994 (2001 neu bearbeitet)
Nachbemerkung:
Nach den wieder geltenden Wolfsgesetzen gibt es jetzt zwar keine Ausschlussprämien, auch keine feststehenden Auslesequoten, aber endlich wieder die Kopfabnoten, ohne die der Lehrkörper mit leeren zur
Strafe erhobenen Händen dasteht wie bei einer Kapitulation mit weißem Fähnchen, das sich noch fix in den Wind halten lässt.
Doch selbst die erhöhten Eintrittsschwellen gegen erfahrungsgemäß renitenteres und gewaltbereiteres Unterschichtenpotenzial kann vor Ausfällen abstiegsgefährdeter Mittel- und Oberschichtsprösslinge nicht
schützen. Höchstens überstundenfreie, ungestresste, ausgeglichene, kinderfreundliche, nichtrassistische, nicht nachtragende, untraumatisierte, nicht überqualifizierte und so nicht frustrierte, angemessen
hoch bezahlte, menschen- und grundrechtsversierte, sozialpädagogisch durchtrainierte, polizeipsychologisch trainierte, mediationserfahrene, fröhlich gutgelaunte Scharfschützen in transparenten
Sandsacknestern auf den Dächern könnten etwas nützen. Aber so etwas können wir uns unmöglich leisten. Bei der aktuellen Haushalts-, Wirtschaftswachstums-, Dow-Jones-, DAX- und Nemax-Lage .... Beim besten
Willen nicht, das werden Sie doch verstehen, bei Ihrer Bildung, Ihrem Abschluss ..... Wenn nicht, dann müssen Sie ganz einfach daran glauben.
Geschrieben und umgeschrieben nach Erfurt
aus Ehrfurcht und Trauer um die vieltausend mal 17 Opfer
und aus unendlich mehr Furcht vor dieser VerGEWALTigungsmaschine
Die Trauerfeiern sind vorbei
pro Jahr ein Sonntag für die Toten
wir ziehen weiter in den Krieg
und geben weiter Noten
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