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REZENSION 5

Karl Gebauer, Gerald Hüther

Kinder brauchen Spielräume
Plädoyer für eine kreative Erziehung

182 Seiten, kartoniert
€ 14,90
Düsseldorf u. Zürich:
Walter, 2003
ISBN 3-530-40153-6

Wie viele Bücher kursieren inzwischen auf dem Markt der pädagogischen Themenkomplexe rund um die Förderung kreativer Entfaltung in Kindheit und Jugend? Gemessen an dem nicht geringen Angebot könnte rasch gefolgert werden, wir lebten in einem schöpferischen Schlaraffenland unter lauter aufgeklärten Eltern, Lehrern und Erziehern weiblichen wie männlichen Geschlechts. Bastel- und Liederbücher, CDs und Kassetten, Neuerscheinungen und Bearbeitungen lösen einander ab wie die Jahreszeiten, mehr, mehr, immer mehr, als strotze es vor Lust und bunter Vielfalt in den Kinder-, Spiel- und Klassenzimmern.

Doch der Schein trügt, und das nicht zu knapp. Die Vermarktung entsprechender Medien ist die eine, ihre Nutzung die andere Seite: Theorie und Praxis klaffen auseinander wie Geist und Seele, Denken und Fühlen, Vorstellung und Wirklichkeit. An Ideen mangelt es nicht, an ihrer Umsetzung durchaus.

»Kinder brauchen Spielräume« – ein Titel, der beim ersten Hinschauen in der Reihe dieser pädagogisch-kreativen Bücherflut unterzugehen droht, denn, Hand aufs Herz und Zeigefinger an die Stirn getippt: Wer weiß das nicht? Was Kinder brauchen, ist den meisten Eltern längst bekannt. Sie brauchen Liebe, Mutter, Vater, Großeltern und Freunde, ein eigenes Zimmer, erholsamen Schlaf, Geheimnisse, Anregung und Ruhe, die allseits propagierten Regeln, Rituale und Grenzen, Muttermilch und Taschengeld, Bewegung und musikalische Früherziehung, naturbelassenes Holzspielzeug, Vollkornbrot und –, nun wird es modern: ein eigenes Handy für den Notfall.

Unsere Kinder, das steht fest, sollen die best mögliche Förderung und Erziehung erhalten, und das lassen sich manche eine Menge kosten.

Wer also braucht ein Buch mit dem Titel »Kinder brauchen Spielräume«, wenn wir das längst wissen und es nur an einem hapert: dem nötigen Kleingeld?

Nun habe ich Sie bewusst auf eine falsche Fährte gelockt. Denn um Geld geht es in diesem Buch ebenso wenig wie um neue Konzepte und Methoden, auch die Forderung nach mehr Spielplätzen mit Rutschbahn, Schaukel, Wipptier, Klettergerüst und Sandkiste suchen Sie hier vergeblich. Vielmehr geht es um die Schaffung von Freiräumen und Atempausen in der zwischenmenschlichen Beziehung und Begegnung, ein Loslassen von zielstrebigem Handeln im spielerischen Geschehen. Die Rolle der pädagogischen Animation gilt es abzulegen, um der Eigenmotivation Platz zu schaffen, besser noch zu lassen, denn nicht selten ist genügend natürlicher Raum vorhanden, der mit allen Mitteln überaktiven Handelns zugebaut wird, um die »kreativ« Tätigen als funktionstüchtige Bastel-Arbeiter bei Laune bzw. »bei der Stange« zu halten.

Noch etwas wird den Leser des Buches überraschen, so er sich am Titel und den Autorennamen orientiert: Karl Gebauer und Gerald Hüther haben sich in diesem Werk selbst schreibend extrem zurückgehalten, um mit Hilfe einer vielseitigen Auswahl von Artikeln anderer Autoren (männlich wie weiblich) Impulse für neue Lösungswege zu sammeln:

»Ausgangspunkt für die Beiträge in diesem Buch war ein Kongress, der im November 2002 in Göttingen unter dem Thema „Kunst und Erziehung – Erziehung als Kunst“ stattgefunden hat. Dabei ging es uns u. a. darum, den Erziehungsprozess selbst als kreativen Akt zu beschreiben. Die Kunst des Erziehens ist ein dialogischer Prozess, der spätestens mit der Geburt eines Kindes beginnt. Schon in den ersten Monaten erlebt das Kind – wenn der Kommunikationsprozess gelingt –, dass es selbst eine aktive Rolle dabei spielt. Ein Kind sieht sich in den Augen der Mutter, und eine Mutter sieht, was sie in ihrem Kind auslöst. Erziehung als Kunst heißt auch innehalten, sich im andern spiegeln, dem anderen ein Spiegel sein, heißt betrachten und sich betrachten lassen, heißt sprechen und hören, agieren und reagieren, heißt Bewegung von innen nach außen bringen und umgekehrt“ (S. 13/14).

Folgerichtig beginnt die Reihe mit einem Beitrag der Säuglingsforscherin Mechthild Papoušek über »Spiel und Kreativität in der frühen Kindheit«.

Die Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel ermutigt zu einer Erziehung durch »zugewandte und kompetente Begleitung zum selbständigen Erkennen und Handeln«.

Rainer Patzlaff, 26 Jahre seines Lebens Oberstufenlehrer einer Freien Waldorfschule, befasst sich mit »Sprache als künstlerisches Medium der Erziehung«, gefolgt von dem Musiker und Neurologen Eckart Altenmüller über die »Einflüsse von Musikerziehung auf das Gehirn«.

Der Erziehungswissenschaftler Ulrich Gebhard widmet sich der »Bedeutung kindlicher Naturbeziehungen« und der daraus wachsenden »Vertrautheit der Welt«.

Fredrik Vahle ist nicht nur Kinderliedermacher, sondern zugleich Dozent an der Universität Gießen sowie Autor des Beitrags »Das Gewöhnliche auf außergewöhnliche Weise tun – Erkundungen zum kreativen Umgang mit Lärm, Stille, Bewegung und Lied«.

Die analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Kunsttherapeutin Deta Margarete Stracke schließt den Reigen mit ihrer Beschreibung über den heilsamen Schaffensprozess von Bildern in Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen.

Wem der beiden Autoren und Herausgeber die Einleitung bzw. das Schlusswort aus der Feder geflossen ist, kann ich nur raten: Dem inhaltlichen Schwerpunkt des Epiloges über die Hirnentwicklung des Kindes folgend tippe ich auf Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen und Mitautor des (an anderer Stelle von mir rezensierten) Ratgebers »Neues vom Zappelphilipp« (Co-Autor Helmut Bonney). Karl Gebauer, viele Jahre Lehrer und Direktor der Leineberg Schule in Göttingen, dürfte sich demnach in den Vorbemerkungen zu Wort gemeldet haben.

Beide Herausgeber haben auf diese Weise nicht nur ein die pädagogische Ratgeberflut in Frage stellendes Werk mit dem Titel »Kinder brauchen Spielräume« geschaffen, sondern zugleich neuen Platz für eigenständige Gedanken mit Hilfe einer gelungenen Auswahl von Beiträgen Impuls gebender Autoren und Autorinnen.

Jutta Riedel-Henck, 27. Dezember 2003

 

Weiterführende Links:

Homepage des Autors Karl Gebauer

WIN-Future
Wissenschaftliches, interdisziplinäres Netzwerk zur Förderung und Verbreitung fachübergreifender, zukunftsorientierter Erkenntnisse im Bereich Erziehung und Bildung, das helfen will, eine Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Praxis.
Gegründet von Prof. Dr. Gerald Hüther (Hirnforscher) und Karl Gebauer (Pädagoge und Sachbuchautor)

Homepage von Fredrik Vahle

»Musik im Alltag: Mit Kindern zurück zu den musikalischen Wurzeln«
von Jutta Riedel-Henck

 

 

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