ADS, ADHS, Hyperkinetisches Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, MCD, minimale cerebrale Dysfunktion, Stoffwechselstörung, Dopamindefizit, Ritalin ja oder nein, auf
keinen Fall oder doch um jeden Preis … Drogenmissbrauch, Verhaltensstörung … Störung, Störung, Störung … – was muss das für eine schreckliche Krankheit sein? Oder gar eine gefährliche Epidemie des 21.
Jahrhunderts?
Wer bereits als unbeteiligter Leser die kurz gefassten Meldungen in Tageszeitungen und Illustrierten verfolgt, im Buchladen einen Blick in das ein und andere Werk zum
Thema »Hyperaktivität« wagt, wird am Ende selbst unter einem Verwirrtheits-Syndrom leiden, geneigt, den beängstigenden Darstellungen schulterzuckend zu erliegen und beim nächsten Gespräch unter Eltern
kritiklos einzustimmen, wenn es heißt: Das Kind braucht Ritalin, es leidet unter einer angeborenen Stoffwechselkrankheit.
Zwischen Betroffenen, d. h. vor allem Eltern unruhiger Kinder, herrscht nicht selten ein regelrechter Meinungskrieg, in dem sich zwei Fronten gegenseitig zu überzeugen
suchen: Pro oder Contra Ritalin. Vermeintlich medizinisch fundierte Fakten sind rasch herbeigeholt, Autoren von Ratgeberbüchern werden zitiert wie eine Bibel, Erfahrungsberichte über die Wirkung des
umstrittenen Medikamentes scheinen diese sogleich zu bestätigen: Ja, Ritalin hilft, das Problem ist erkannt, die Gefahr gebannt.
Ist sie das wirklich? So fragen die anderen, und nur wenige machen sich auf den Weg, die Wurzeln dieser heftig geführten Debatten zu ergründen und dem Problem wahrhaft
umfassend nachzuspüren.
Einen Meilenstein auf diesem Weg bietet das Buch »Neues vom Zappelphilipp«, ein kooperatives Werk des Neurobiologen Gerald Hüther, Professor an der Universität Göttingen,
und Kinderpsychiaters sowie Familientherapeuten Helmut Bonney aus Heidelberg.
Auf nur 146 Seiten (zuzügl. Bibliographie) wird den am »Grabenkampf« gegenüber stehenden Parteien ein fundiertes und plausibles Erklärungsmodell vorgestellt, das sich an
neuen Erkenntnissen der Hirnforschung orientiert und zugleich die Möglichkeiten familientherapeutischer Arbeit erörtert.
Demnach handelt es sich bei der etablierten Behandlungsmethode durch Medikamentenverordnung um einen Trugschluss fehlinterpretierter Symptome, welche in ihrer
Teufelskreiswirkung an die Schreien-Blähungs-Koliken-Schreien-Spirale erinnern. Das neue Modell macht sogleich Mut, die »Störung« als Herausforderung zu begreifen und sich mit aller elterlichen Kompetenz
der besonderen »Begabung« ihres empfindsamen, wachen Kindes zu widmen, ohne an lebenslänglich medikamentöse Behandlungspläne gefesselt zu sein:
»Dieses Modell geht davon aus, dass es Kinder gibt, die bereits als Neugeborene und während ihrer Kleinkindphase erheblich wacher, aufgeweckter, neugieriger und leichter
stimulierbar, oder einfach nur empfindlicher, „dünnhäutiger“ und „unruhiger“ sind als andere.« (S. 69)
Eine vermutete Stoffwechselstörung als Folge eines Mangels an Dopamin, dem Botenstoff, der im Gehirn zwischen den Nervenzellen für die Weiterleitung aufgenommener Reize
sorgt, wird mit Hilfe neuer Sichtweisen und Erkenntnisse in einem größeren Zusammenhang untersucht. Wer den Darstellungen der Autoren aufgeschlossen und unvoreingenommen folgt, mag der verbreiteten
kritiklosen Verabreichung stimulierender Medikamente kaum mehr seine zweifellose Zustimmung schenken. Vielmehr eröffnet die neue Sichtweise ein weites Feld an Möglichkeiten konstruktiver
Förderungsmaßnahmen.
An Hand von leicht nachvollziehbaren Fallbeispielen, in denen sich Betroffene in mancher Hinsicht wieder finden können, wird dem anfänglich in die Welt gesetzten „bösen
Krankheitsbild“ seine destruktive Macht genommen, stellt sich die Problematik nun als durchaus mit alltäglichen Mitteln lösbare Aufgabe dar, in der Eltern fähig sind, ihr besonderes Kind auf besondere
Weise in sein Leben zu begleiten. Um diesen von der Norm abweichenden Gegebenheiten gerecht zu werden und anfänglich unüberwindbar scheinende Hürden aus dem Weg zu räumen, ist die Inanspruchnahme einer
familientherapeutischen Behandlung eine sinnvolle und begrüßenswerte Maßnahme zur langfristigen Beruhigung aller am Betreuungs- und Erziehungssystem beteiligten Personen.
Spannend und in jedem Fall hoffnungsvoll gestaltet sich die Beschreibung der Entwicklung des menschlichen Gehirns, auf die wir Menschen weitaus mehr Einfluss haben als
häufig angenommen:
»Jahrzehntelang war man davon ausgegangen, dass die während der Hirnentwicklung ausgebildeten, neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen unveränderlich
seien. Heute weiß man, dass das Gehirn zeitlebens zur adaptiven Modifikation und Reorganisation seiner einmal angelegten Nervenzellverschaltungen befähigt ist und dass die Herausbildung und Festigung
dieser Verschaltungen ganz entscheidend davon abhängt, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen.« (S. 25)
Demzufolge kann die Verabreichung stimulierender Medikamente zu einer Verfestigung ungenügend entwickelter Hirnfunktionen führen. Wer dagegen bereit ist, sich in
vielfältiger Hinsicht kreativ und auch experimentell in seinem Verhaltensrepertoire zu erweitern, das Familienleben an den ungewöhnlichen Anforderungen auszusteuern und übernommene erzieherische
Vorstellungen zu hinterfragen, darf durchaus auf positive Überraschungen in der Entwicklung seines Kindes gespannt sein, um nicht selten auf gleichem Wege lang gehegte Kreativitäts-Blockaden im eigenen
Denk- und Seelenhaushalt zu lösen.
Jutta Riedel-Henck, 2. Oktober 2003
Weiterführende Links
Die Strukturierung des
kindlichen Gehirns durch Erziehung und Sozialisation Leseprobe aus »Neues vom Zappelphilipp« von Gerald Hüther u. Helmut Bonney
Systemisches Seminar Heidelberg Dr. med. Helmut Bonney, Arzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Kinderheilkunde
ADHS und Ritalin
Kritische Anmerkungen von Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther
Filter fürs Gehirn: Der
sprunghafte Anstieg des Psychopharmakas Ritalin bei Kindern muss kritisch überprüft werden Deutschlandfunk Sprechstunde vom 7.5.2002
Mehr als Ritalin-Kritik
von Axel Föller-Mancini
ADS-Kritik Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
WIN-Future Wissenschaftliches, interdisziplinäres Netzwerk zur Förderung und Verbreitung fachübergreifender, zukunftsorientierter Erkenntnisse im Bereich
Erziehung und Bildung, das helfen will, eine Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Praxis. Gegründet von Prof. Dr. Gerald Hüther (Hirnforscher) und Karl Gebauer (Pädagoge und Sachbuchautor)
Neuerscheinung
Helmut Bonney
Kinder und Jugendliche in der familientherapeutischen Praxis
176 Seiten, kartoniert € 19,95 Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg September 2003 ISBN 3-89670-418-4
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