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REZENSION 9

Jesper Juul; Helle Jensen

Vom Gehorsam zur Verantwortung
Für eine neue Erziehungskultur

358 Seiten, Hardcover
€ 24,90
Düsseldorf u. Zürich:
Walter, 2004
ISBN 3-530-42179-0

Dieses 358 Seiten starke Hardcover-Buch bedarf großer Geduld und Aufmerksamkeit sowie eines umfassenden pädagogischen Hintergrundwissens in Theorie und Praxis, um das Wesentliche der darin verborgenen Botschaften »für eine neue Erziehungskultur« zu begreifen.

 

Im Klappentext heißt es:

»Destruktives Verhalten, tagtägliche Konflikte, zermürbende Machtkämpfe mit schwierigen Kindern – für viele Lehrer, aber auch für viele Eltern eine große pädagogische Herausforderung. Doch Ungehorsam und Disziplinlosigkeit haben, so die Autoren, vor allem eine Ursache: einen tief greifenden Beziehungskonflikt zwischen Erwachsenen und Kindern. Kinder wollen lernen, wollen kooperieren, wenn im respektvollen Umgang, in wirklich gleichberechtigtem Dialog ihre persönliche Integrität und Individualität anerkannt und gewahrt werden.

Anschaulich zeigen die Autoren aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrung, wie Beziehungskompetenz – der zentrale Begriff für die neue pädagogische Kultur – sich für Lehrer, Erzieher und Eltern gestaltet. Zahlreiche Fallbeispiele belegen, dass die alte Gehorsamskultur in Schulen und Familien längst ausgedient hat und wie wirkliche Alternativen, etwa ein auf Empathie und festen Regeln basierender Erziehungsstil, aussehen.

Jesper Juul ist Familientherapeut, Lehrer, Konfliktberater und Leiter des „Kempler Institut of Scandinavia“. Er ist Autor zahlreicher Bücher; […] Helle Jensen ist Diplompsychologin, Familientherapeutin und seit 1992 als Konflikt-Beraterin und Lehrerin am Kempler Institut tätig.«

 

Beide Autoren wirken in Dänemark. Dass Sprache und ihre Auslegung eng mit ihrer kulturellen Entstehung und deren sozialen Strukturen vernetzt ist, steht in der Übersetzung aus dem Dänischen ins Deutsche nicht nur formal, sondern auch inhaltlich als Verständigungshürde im Weg. Phasenweise fiel es mir schwer, Zusammenhänge von Satzaussagen zu ergründen, die in gedankliche Selbstläufer auszuarten drohten mit der Gefahr, sich in all zu abstrakten Begriffsdefinitionen und deren Umschreibungen zu verlieren. Dem entgegen wirkten die zahlreichen Fallbeispiele aus der Praxis und ihre analytischen Kommentierungen wie heiß ersehnte Rettungsanker und Beziehungsknüpfer zur Realität.

Obwohl die Autoren über reichhaltige pädagogische Erfahrungen verfügen, münden ihre theoretischen Ausführungen streckenweise extrem in sprachlicher Verallgemeinerung, die zumindest mir als Leserin die Lektüre verdarben. Die der Veranschaulichung dienenden Modelle in Form einfacher bildlicher Darstellungen halfen nur annähernd bei der Klärung der teilweise chaotisch wirkenden Ausführungen von in meinen Augen recht einfachen Grundaussagen, die sich bereits aus dem Titel des Buches ergeben: »Vom Gehorsam zur Verantwortung«.

Auf der Suche nach Definitionen ungewöhnlicher Perspektiven in der pädagogischen Beziehung zwischen allen Beteiligten mit ihren jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln scheinen mir Kernbegriffe wie Authentizität und Dialog zunächst ausreichend, um anhand praktischer Beispiele Lösungen vorzustellen, die sich aus den jeweiligen Situationen ergeben. »Beziehungskompetenz« wächst und reift aus dem Dialog und der Rückbesinnung auf die eigene Person mitsamt individueller Prägungen und Erfahrungen. Eine stete Reise zwischen Selbstbesinnung und Hinwendung zum Du bzw. Ihr ist für einen konstruktiven Dialog Voraussetzung und nicht nur in pädagogischen Berufen und Institutionen von grundlegender Bedeutung. Je vielfältiger der Austausch, desto reichhaltiger werden die Möglichkeiten zum Verständnis des zunächst noch Fremden, das uns herausfordert zu neuen Sichtweisen und zugleich verlangt, uns von klischeehaften Routine-Handlungen zu verabschieden.

»Verantwortung« gilt es, genauer zu betrachten bzw. das, wofür dieser Begriff Verwendung findet.

 

»Unter persönlicher Verantwortung ist in diesem Kontext natürlich die Fähigkeit und der Wille des einzelnen Menschen, die Verantwortung für seine eigene Integrität, sein Handeln und die kleinen und großen Lebensentscheidungen zu übernehmen, die daraus folgen [gemeint, JRH].
[…]
Die Bedürfnisse und Erwartungen anderer Menschen, kulturelle und subkulturelle Konventionen stellen per Definition eine Bedrohung unserer persönlichen Verantwortlichkeit dar.
[…]
Im Zusammenhang mit dem Hauptthema dieses Buches – dem Übergang von Gehorsam zur Verantwortlichkeit – ist die persönliche Verantwortlichkeit besonders wichtig, weil sie das Mittel und ein wichtiger Bestandteil des Ziels in der Kindererziehung und Pädagogik ist.« (S. 91)

 

Gehorsam und Verantwortlichkeit erscheinen als zwei Phasen, die einander ausschließen bzw. linear ablösen, während ich darin zwei sich gegenseitig förderliche Aspekte kreativer Dialogfähigkeit und Beziehungskompetenz sehe.

Verantwortung bedarf der Berücksichtigung ungestellter, aber möglicher Fragen potenzieller Gesprächspartner und beruht auf der Erfahrung kreativer Dialoge, welche den Verantwortlichen lehren, von der rein egozentrischen Handlungs- und Sichtweise abzusehen und die Folgen seines Tuns im Hinblick auf dessen Wirkung zu reflektieren. Verantwortung baut somit auf Gehorsam gemäß dem Stammwort, der diesem Begriff zu Grunde liegt: horchen, hören – eine sinnliche Wahrnehmung und Voraussetzung für den offenen Dialog mit der Umwelt.

Geht es demnach nicht vielmehr um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Verantwortung und Gehorsam als Voraussetzung für einen Dialog, in dem die Gesprächspartner ihrem Erfahrungsstand gemäß gleichberechtigt geben und nehmen unter Rücksichtnahme dessen, was der andere dem zu entgegnen haben könnte?

Gehorsam verlangt loszulassen von ich-behauptender Zielstrebigkeit, wer zuhört, muss sich öffnen, verliert damit zugleich den kontrollierenden Halt, eine in Maßen wünschenswerte und sinnvolle soziale Einstellung. Wer ver-antwortet, ist dagegen in angespannter Haltung, während er sein Tun reflektiert und dessen mögliche Konsequenz berücksichtigt. In einem Gespräch sollte beides einander befruchten und abwechseln, während die Teilnehmer des Dialoges durch Horchen und Handeln gleichfalls zur Ausgewogenheit ihrer Beziehung beitragen.

Abgesehen von den hier angedeuteten sprachlichen Verständigungsproblemen bleibt die Vermutung, dass die Inhalte des Buches im Wesentlichen mit dem übereinstimmen, was ich auf andere Weise ausgedrückt hätte, um es mit einfachen Begriffen und ihren ursprünglichen Bedeutungen auf den Punkt zu bringen.

Aus den vielen anregenden und gut nachvollziehbaren Fall-Beispielen lässt sich ohne Umwege herauslesen, worum es den Autoren in ihren theoretischen Umschreibungen eigentlich geht. Eine deutlichere und weniger verallgemeinernde Bezugnahme zur Praxis würde ich begrüßen wie auch persönliche Stellungnahmen der Autoren, die sich für meinen Geschmack zu vorsichtig und distanziert hinter einem verallgemeinernden »Wir« und »unserer Erfahrung und Meinung nach« verstecken, als fürchteten sie die Aberkennung ihrer mittels Erfahrung gewachsenen Kompetenz durch erziehungswissenschaftliche Prüfungskommissionen.

Im Wesentlichen ist mir das Buch mit seinen Gedanken und neuen Impulsen durchweg sympathisch, und es würde mich freuen, ließen sich die sprachlichen Barrieren mit der Zeit überwinden, wenn nicht gar auflösen.

Jutta Riedel-Henck, 4. April 2004

 

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Vom selben Autor:


Jesper Juul

Das kompetente Kind

288 Seiten, Taschenbuch
€ 8,90
Reinbek: Rowohlt, 2003
ISBN 3-499-61485-5

 

© 2004 Jutta Riedel-Henck