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REZENSION 8

Dieter Krowatschek

Wut im Bauch
Aggression bei Kindern

152 Seiten, kartoniert
€ 14,90
Düsseldorf u. Zürich:
Walter, 2004
ISBN 3-530-40160-9

Der Titel dieses Buches ist gemessen am Inhalt unglücklich gewählt. Denn konkret handelt es sich hier um die Beschreibung von Verhaltensregeln und -maßnahmen im Umgang mit Kindern bzw. Jugendlichen, die zu übermäßigen Wut- und Gewaltausbrüchen neigen, welchen Eltern, Lehrer und Betreuer hilflos ausgeliefert scheinen, wenn die herkömmlichen pädagogischen Mittel keine Wirkung zeigen.

 

Der Buchrückentext:

»Sie prügeln, treten und toben oft aus scheinbar „nichtigen“ Gründen, sie mobben Mitschüler oder quälen Tiere – aggressive, dissoziale Kinder. Mit ihren Wutausbrüchen und ihren auffälligen Verhaltensweisen lösen sie bei vielen Eltern, Erzieherinnen und Lehrern oft Ohnmacht und Ratlosigkeit aus.

Der Marburger Schulpsychologe Dieter Krowatschek führt in diesem Elternratgeber zahlreiche Formen aggressiven Verhaltens vor und präsentiert mit seinem „Marburger Verhaltenstraining“ viele gut praktizierbare Maßnahmen für den Umgang mit besonders schwierigen Kindern.«

 

Während des Lesens kam mir oft der Begriff »Notfall-Apotheke« in den Sinn, gleichfalls erschienen mir Bilder von Notarztwagen und uniformierten Polizisten, die Amok laufende, aus jeglicher Kontrolle geratene Kinder bzw. Jugendliche durch gezielte Griffe und Befehle zur Raison bringen, um größere Ausmaße und Übergriffe zu vermeiden. Dass es in dieser Hinsicht eine Notwendigkeit gezielten Durchgreifens gibt, wird heute niemand ruhigen Gewissens bestreiten können. Die Spitze des Eisberges lang aufgestauter Wut und einst im Verborgenen erlittener Gewalttaten gerät zunehmend ans Licht der Öffentlichkeit.

 

Unter dem Titel »Das Phänomen Wut und Aggression« schreibt der Autor im ersten Kapitel:

»Es gibt inzwischen zahllose Abhandlungen über das Phänomen Wut, und doch bieten die Autoren wenig wirksame Lösungen für konkrete Situationen. Auf der einen Seite raten Experten, auf aggressives Verhalten passiv und gewaltfrei zu reagieren. So entsteht der Eindruck, man habe die Situation voll im Griff. Aber das betroffene Kind sieht hier nicht die geringste Veranlassung, sein Verhalten zu ändern. Es glaubt, „grünes Licht“ zu haben, wenn es mit den Erwachsenen nach Belieben umspringt.

Auf der anderen Seite empfehlen Theoretiker, der eigenen Wut und dem Zorn Luft zu machen und aggressive Gefühle offen zu äußern, sie zuzulassen und auszuleben. Man scheint zu vergessen, dass der eigene Gefühlsausbruch bei manchen Kindern kaum zu brechenden Widerstand und trotzige Gegenwehr provoziert.

Beide Methoden haben ihre Schwachpunkte. Eltern und Lehrkräfte, aber auch Therapeuten stehen aggressivem Verhalten, Wutausbrüchen und besonderen Verhaltensproblemen in der Regel völlig hilflos gegenüber, scheinen zu erstarren und keine angemessenen Reaktionen zu finden.« (S. 11)

 

Diesem schwierigen Thema stellt sich Dieter Krowatschek kurz, prägnant und ohne Umschweife. Er gibt eindeutige Tipps mit Hilfe von Beispielen, in denen es zu Streit und heftigen Wutanfällen kommt. Was diesen gewaltigen Ausbrüchen als Geschichte zu Grunde liegt, bleibt jedoch kaum berücksichtigt, lag aber womöglich nicht in der Intention des Autors für seinen speziellen Ratgeber.

Für alltägliche Probleme der Erziehung scheinen mir viele Tipps ungeeignet, wenn nicht gar überzogen, wenig kreativ und kooperativ. Ein Beispiel:

»Norbert schaut sich im Fernsehen seine Lieblingsserie an. Seine Mutter bittet ihn, schnell den Mülleimer nach unten zu bringen, da es in dieser Woche sein Job ist. Norbert regt sich unglaublich auf. Er wirft seiner Mutter vor, dass sie ihn immer während seiner Lieblingsserie störe. Sie widerspricht. Ein Wort gibt das andere, und bald sind sie in einen längeren Streit verwickelt. Am Ende des Gesprächs verlassen beide Türen schlagend den Raum. Der Mülleimer ist kein Thema mehr – offensichtlich hat die Mutter über der Diskussion vergessen, was sie ursprünglich von Norbert wollte. Sie hat alle seine Argumente entkräftet, aber nicht erreicht, dass der Mülleimer sauber ist.« (S. 90/91)

Ein für sich genommen vielfältig interpretierbares Beispiel, bei dem ich spontan dachte: Auch ich möchte nicht bei meiner Lieblingsserie gestört werden. Was dieser Szene vorausgegangen sein mag, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Entsprechend bezugslos wirken die darauf folgenden Ratschläge:

»Hier empfiehlt es sich, folgendermaßen vorzugehen:

  1. Klar sagen, was getan werden soll und welche Konsequenz es hat, wenn es nicht getan wird.
  2. Bevor eine Konsequenz erfolgt, gibt es zwei bis drei Verwarnungen.
  3. Wird die aufgetragene Arbeit dann immer noch nicht erledigt, praktiziert man eine Auszeit.
  4. Nach der Auszeit muss das Kind trotzdem die aufgetragene Aufgabe ausführen.«

Wäre es nicht einfacher gewesen, den Jungen seine Sendung zu Ende schauen zu lassen und während dessen nur kurz ins Zimmer zu gehen mit dem Hinweis, dass er anschließend wie abgesprochen den Mülleimer runter bringen soll? Das Argument des Jungen wäre damit nicht einfach entkräftigt, sondern ernst genommen. Denn welcher Erwachsene möchte gerne bei seiner Lieblingssendung gestört werden?

Auch in anderer Hinsicht fehlt es mir an differenzierenden Darstellungen der Situation, den durch erzieherisches Eingreifen bedingten Symptomen (Wut, Streit) und ihren möglichen Ursachen bzw. Auslösern für die daraus resultierenden Auseinandersetzungen.

 

Offen blieb im folgenden, was der Autor unter »körperlichen Strafen« versteht:

»Wenn Sie körperlich bestrafen, tun Sie dies kurz und kontrolliert.« (S. 62), heißt es in einer Reihe von Punkten zum Umgang mit Strafen. Manche Eltern könnten dies leicht missdeuten und zu ihren Gunsten auslegen, wenn sie dazu neigen, ihre Kinder zu schlagen, um ihre persönliche Macht zu missbrauchen (was ich dem Autor nicht als Intention unterstelle!).

Das Buch hat als eigenständiges Regelwerk viele Schwächen, woraus ich nicht automatisch auf die Qualität der vom Autor in der Praxis durchgeführten Verhaltens-Trainings schließe. In der Realität lassen sich Ungereimtheiten und Missverständnisse vor Ort besprechen, ausdiskutieren, dienen die lebhaften Reaktionen der Kinder als Signal. Ein Buch birgt jedoch die Gefahr in sich, Ideale zu vermitteln, um von unsicheren Eltern und Erziehern unter Berufung auf die Autorität des Autors kritiklos übernommen zu werden.

Sich den Notfällen zu widmen und Hilfe für konsequentes, auch strenges Durchgreifen in schwierigen bis lebensgefährlichen Situationen anzubieten, begrüße ich sehr. Auf diese Spitzen beschränken sich die meisten Tipps, und so sollten Interessierte den Ratgeber auch verstehen, um ihre eigene Kreativität in der Erziehung möglichst vorbeugend einzusetzen und Ausschreitungen dieser Art so gut es gelingt zu verhindern. 

Betroffenen Eltern möchte ich raten, dieses Buch in Verbindung mit dem Besuch einer Erziehungsberatungsstelle oder einem ähnlichen (z. B. familientherapeutischen) Hilfsangebot vor Ort zu nutzen. Lehrer und Erzieher/innen könnten die darin vorgestellten Maßnahmen gruppenweise diskutieren und an Hand eigener Beispiele aus der Praxis durchspielen. Bewusst sollte dabei allen Beteiligten sein, dass es sich bei den Verhaltens-Trainings um ein Kurieren der Symptome handelt, deren Ursachen-Ergründung nicht vernachlässigt werden darf, um langfristig zur Beruhigung der katastrophalen Gewaltspirale unserer Gesellschaft beizutragen.

Jutta Riedel-Henck, 23. Februar 2004

 

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© 2004 Jutta Riedel-Henck