2003
2004
2005
2006
2007
2008

REZENSION 7

Simon Baron-Cohen

Vom ersten Tag an anders
Das weibliche und das männliche Gehirn

Hardcover, 332 Seiten
Düsseldorf/Zürich: Walter, 2004
ISBN 3-530-42174-X
€ 19,90

Wie es aussieht, bedarf die Gegenwart eines aktualisierten Aufklärungsunterrichtes über die Unterschiede der Geschlechter.

Für mich selbst war nie eine Streitfrage, dass Frauen anders sind als Männer, nicht nur hinsichtlich ihrer körperlichen Merkmale, sondern ebenso auf seelisch-geistigem Gebiet.

Schlagwörter wie Sexismus und Frauenfeindlichkeit mögen zwar beliebte Waffen erhitzter Gemüter im Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter sein, führen jedoch selten zum lang ersehnten Frieden und freundlichen, d. h. partnerschaftlichen Miteinander zwischen weiblichen und männlichen Menschen.

Sind Frauen tatsächlich so schwach und Männer so stark, wie gerne behauptet wird? Oder hat nicht jedes Geschlecht seine ganz spezifischen Stärken und Schwächen?

Wie dem auch sei, fest steht, Frauen und Männer wären ohne einander längst ausgestorben. Grund genug, sich um eine freundliche Annäherung zu bemühen und ihre jeweiligen Besonderheiten zu betrachten.

Simon Baron-Cohen, Professor für Psychologie und Psychiatrie am Trinity College der University of Cambridge und Direktor am Zentrum für Autismusstudien, stimmt in seinem Buch »Vom ersten Tag an anders« einen auffallend vorsichtigen Ton an, um seine These vom Unterschied des weiblichen und männlichen Gehirns zu erläutern, als wolle er um keinen Preis in die Rolle des Frauen diskriminierenden männlichen Wissenschaftlers geraten. Dabei geht es ihm in seinen Forschungen keinesfalls um Bewertungen.

Seiner gleich zu Beginn vorgestellten Theorie mochte ich als Frau dann auch ohne zu zögern spontan zustimmen:

»Das weibliche Gehirn ist so „verdrahtet“, dass es überwiegend auf Empathie ausgerichtet ist. Das männliche Gehirn ist so „verdrahtet“, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau von Systemen ausgerichtet ist.« (S. 11)

In leicht verständlicher Sprache widmet sich der Autor zunächst den seiner Theorie zu Grunde liegenden Begriffen Empathie und Systematisierung. Empathie meint die Fähigkeit der Einfühlung in andere Menschen, verbunden mit der Freude an lebendiger Kommunikation und Berücksichtigung der jeweiligen Bedürfnisse und seelischen Befindlichkeit des Gesprächspartners. Systematisierung dagegen bezieht sich auf eine Ordnungsgestaltung von Objekten nach Kriterien, die einer nachvollziehbaren Logik folgen.

Die Systematisierungs- bzw. Empathiefähigkeiten werden jeweils einer der beiden Gehirnhälften zugeschrieben:

»Die rechte Hemisphäre ist am räumlichen Vorstellungsvermögen beteiligt, das, wie wir gesehen haben, vom Systematisierungsvermögen unterstützt wird. Die linke Hemisphäre ist am Sprach- und Kommunikationsvermögen beteiligt, das von der Empathie gefördert wird. […] Die Spezialisierung der beiden Hirnhälften wird als „Lateralität“ verschiedener Hirnfunktionen bezeichnet. Die Lateralität von Sprachprozessen ist umfassend untersucht worden. Sprachliche Fähigkeiten spielen eine große Rolle in unserem Sozialleben und für die Empathie. Schon mit sechs Monaten zeigt sich bei kleinen Mädchen eine höhere elektrische Aktivität in der linken als in der rechten Hirnhälfte, wenn sie Gesprächslaute hören. Mit zunehmendem Alter wird die linke Hemisphäre bei den meisten Menschen „dominant“ für die Sprache. Die Tatsache, dass kleine Mädchen bereits sehr früh eine linkshemisphärische Dominanz bei der Sprachwahrnehmung zeigen, könnte erklären, warum Mädchen schneller sprechen lernen als Jungen«. (S. 148)

Um es gleich vorwegzunehmen bezüglich der berühmten Ausnahmen zur Bestätigung der Regel: Es gibt ebenso Frauen mit einem »männlichen« Gehirn wie Männer mit einem »weiblichen«, d. h. Frauen, die eine größere Neigung zum Systematisieren haben und Männer mit stärkerer Empathie-Begabung.

Interessant auch die Bemerkung zur Geschlechterverteilung hinsichtlich so genannter Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität:

»Selbstbeherrschung ist entscheidend für das Einfühlungsvermögen. Es ist schwer, Rücksicht auf die emotionale Befindlichkeit eines anderen Menschen zu nehmen, wenn man nur an sich selbst denkt. Natürlich schaltet man seine eigenen Gefühle nicht ab, wenn man sich in einen anderen Menschen hineinversetzt, denn zur Empathie gehört ja gerade eine angemessene eigene Gefühlsreaktion auf die Gefühle des anderen. Dennoch braucht man Selbstbeherrschung, um das eigene (egozentrische) Ziel beiseite zu schieben und sich auf die andere Person zu konzentrieren. […]

Sowohl Verhandeln als auch Höflichkeit erfordern mehrstufige Strategien zur Erreichung eines Ziels und nicht einfach eine schnelle Schlussfolgerung (zugreifen und schlagen). Es gibt einige weitere relevante Beispiele für einen geschlechtsspezifischen Unterschied bei der Selbstbeherrschung: Bei Mädchen führt die Reinlichkeitserziehung meist früher zum Erfolg, und bei Jungen besteht ein größeres Risiko, dass sie unter Aufmerksamkeitsschwächen, Störungen der Impulskontrolle sowie motorischer Hyperaktivität (ADHD) leiden.«
(S. 158-159)

Dass eine geschlechtsspezifische Begabungsverteilung vor allem hinsichtlich der Elternschaft sinnvoll ist, liegt auf der Hand: Eine Mutter bedarf der Fähigkeit, spontan und ohne Umschweife auf die lebendigen Regungen ihres Babys zu reagieren, um seine Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Ernährung und Trost zu befriedigen und emotional Anteil zu nehmen. Während die Mutter in der ersten Zeit des jungen Erdenlebens vor allem mit der Kinderbetreuung beschäftigt und ausgelastet ist, sorgt der Vater für die Beschaffung von Nahrung und den Erhalt der Unterkunft durch »Eroberung des Raumes« außerhalb der familiären Schutzgemeinschaft. Ohne gesunden Egoismus im Kampf mit der außerhäuslichen Konkurrenz wäre seine Jägerei erfolglos und damit eine Gefahr für die Existenz der Familie.

Beweise für seine Theorie sucht Baron-Cohen nicht allein in der stammesgeschichtlichen Entwicklung. Neben sozio-kulturellen Faktoren, die für sich genommen keine vollständige Erklärung für die Unterschiede der Geschlechter bieten, beobachteten Wissenschaftler einen Zusammenhang des vorgeburtlichen Hormonspiegels mit der Ausbildung dominanter Hirnhälften.

Eine Extrem-Form des männlichen Gehirns stellt nach der vorgestellten Theorie das Phänomen des Autismus dar:

»Die Diagnose „Autismus“ wird gestellt, wenn eine Person Anomalitäten in ihrer sozialen Entwicklung und Kommunikation zeigt und schon in früher Kindheit ungewöhnlich starke obsessive Interessen an den Tag legt.« (S. 185)

Als eine Variante des Autismus gilt das so genannte »Asperger-Syndrom«:

»Kinder mit AS weisen die gleichen Probleme mit sozialen und kommunikativen Fähigkeiten und die gleichen obsessiven Interessen auf. Sie verfügen allerdings über einen normalen oder hohen IQ (wie beim high-functioning-Autismus), und ihre Sprachentwicklung ist nicht verzögert. Von daher sind die Probleme dieser Kinder mitunter weniger augenfällig.« (187-188)

Was nun bedeuten diese Erkenntnisse für den zwischenmenschlichen Umgang in Familie, Alltag, Schule und Beruf? Unter der Überschrift »Die Pflichten der Gesellschaft: Intervention – ja oder nein?« schreibt Baron-Cohen:

»Vielleicht ist ja ein Ergebnis dieses Buches, dass Lehrer sich nicht mehr so viele Sorgen um die Mädchen machen müssen, wenn es um die Förderung der Empathie geht, und weniger Sorgen um die Jungen, wenn es um die Förderung des systematischen Denkens geht. Vielmehr könnten sie ihren Unterricht gezielt darauf ausrichten, jedes Geschlecht in demjenigen Bereich zu unterstützen, in dem es wahrscheinlich mehr Hilfe und Anleitung braucht. Einige Leser sind jetzt vielleicht angenehm überrascht, weil sie davon ausgegangen waren, dass Lehrer und Eltern keinen Einfluss auf die Entwicklung nehmen können, wenn die Persönlichkeit zum Teil von biologischen Faktoren bestimmt wird. So zu denken wäre falsch. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Einzelne durch biologische Faktoren in eine bestimmte Richtung gedrängt, doch es gibt eine Fülle von Nachweisen dafür, dass persönliche Erfahrungen die Hirnstruktur verändern und umformen können.« (S. 245-246)

Das stimmt hoffnungsvoll für eine gegenseitige Befruchtung und Förderung der Geschlechter. Ich selbst lege großen Wert darauf, beide Gehirnhälften sinnvoll miteinander zu koordinieren und tue mich mit einer getrennten Beurteilung schwer. Obwohl ich in den Tests im Anhang des Buches eindeutig als überdurchschnittlich empathisch abschneide, halte ich mich für einen klar strukturierten Menschen mit Freude an systematischem Denken. Allerdings muss dieses im Einklang mit den Gegebenheiten der Natur stehen. Abstrakte Systeme, herausgerissen oder gar Feind zu den Rhythmen natürlich gewachsener Strukturen waren mir schon immer ein Gräuel. Und so möge es für mich auch gerne bleiben.

Jutta Riedel-Henck, 9. Februar 2004

 

Rezensionen Überblick

Seitenanfang

 

© 2004 Jutta Riedel-Henck