Gestern fragte meine Tochter, frisch gebackene Gymnasialanwärterin, nach meinen Zeugnissen. Kein Problem, in einem Ordner wohl vertütet lagern sie ihr tristes Schattendasein. Sie staunte, als
ich ihr die Dreien, Vieren und Fünfen aus meiner Berg- und Tal-Schulzeit vor Augen hielt. Na gut, ein paar Zweier und Einser gab es auch dazwischen: Musik als Trostpflaster für mangelndes Interesse in
Geschichte, Physik, Chemie und … – Deutsch?
Nein, wahrhaft mangelndes Interesse war es nicht, erklärte ich Jana, wollte ich doch kein schlechtes Vorbild sein. Vieles traf zusammen: eine Deutschlehrerin, die mich nicht mochte (was auf
Gegenseitigkeit beruhte) und hier und da vor der Klasse hänselte, ein muffiger Geschichtslehrer, der uns leblose Fakten auswendig lernen ließ, ein Chemielehrer, der während des Unterrichts nicht minder
abwesend wirkte als seine unbeteiligte Schülerin … und ein zerbrochenes Familienleben als Schlüsselkind einer berufstätigen, allein erziehenden Mutter. Was ich in der Schule trieb, fand zu Hause wenig
Interesse. Irgendwie würde ich intelligentes Kind das schon alleine packen. Vergeblich suchte ich nach einem Sinn, für bessere Zensuren zu pauken. Die Schule war mir mehr oder weniger egal.
Schade, denke ich heute. Was hätte ich alles lernen können in dieser Zeit und vor allem wollen! Nun ist es zu spät, doch eines habe ich erkannt: Es liegt nicht nur an der Schule, den Lehrern
und dem heiß kritisierten Schulsystem. Die Motivation zum Lernen bedarf vor allem elterlicher Liebe und familiärer Geborgenheit, ihrem aufrichtigen Interesse am Alltag des Kindes sowie einer feinfühligen
und wachsamen Beobachtung seiner ganz spezifischen Eigenart und Begabungen, um ihm Türen und Fenster zu öffnen und Wegbegleiter zu sein auf der Suche nach geeigneten Mitteln und Räumen zur Entfaltung
seiner Fähigkeiten.
Wer auf diesen Wegen Orientierung sucht, findet in dem vom Schweizerischen Verband für Berufsberatung herausgegebenen Ratgeber »Jedes Kind hat starke Seiten: Wie Eltern Begabungen richtig
erkennen und fördern« eine breite Palette von Anregungen. Nach einer Einführung mittels kurz gefasster Darstellungen verschiedener Theorien widmen sich die Autorinnen (und Mütter) Dominique Bühler und Inge Rychener dem Begriff der Kreativität in Philosophie und Intelligenzforschung, gefolgt von praxisbezogenen Tipps. Im 3. Kapitel kommt die Sonderpädagogin und Familientherapeutin Michal
Gablinger zu Wort über die förderliche Haltung von Eltern in der Erziehung. »Auf Entdeckungsreise – Erkennen der persönlichen Begabung« ist das 4. Kapitel betitelt.
»Jeder Mensch verfügt über vielfältige Talente und Begabungen. Einige dieser Begabungen sind offensichtlich, so dass sie jedem sofort auffallen. […] Schwieriger ist es, wenn die Begabungen
im Verborgenen liegen.« (S. 51-52)
An dem im ersten Kapitel vorgestellten »Modell der 8 ½ Intelligenzen« von Howard Gardner, amerikanischer Psychologe und Professor an der Harvard University sowie an der Graduate School
of Education, orientieren sich die nun folgenden Kapitel zur Förderung spezieller Begabungen:
Förderung der sprachlichen, musikalischen, logisch-mathematischen und räumlichen, der gestalterischen, sportlichen, emotionalen, naturkundlichen sowie spirituellen Begabung.
Nach einem wiederkehrenden Schema beantworten zu Beginn jedes Kapitels von ihrer speziellen Begabung geprägte »Berufene« Fragen wie »Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Sie auf Ihren heutigen
Beruf brachte?«, »Was ist Ihr größtes Opfer« oder »Wenn Sie Eltern einen Rat geben könnten, wie würde er heißen?«. Eltern, Kinder, Schüler und Schülerinnen werden in themenbezogenen Porträts vorgestellt
und berichten von ihren Erfahrungen, Problemen und Sichtweisen. Zu jeder Begabung und ihrer Förderungsmöglichkeit gibt es konkrete Anregungen und am Ende eine Liste mit weiterführenden Medien.
Aus diesem vielseitig bestückten Angebot zur Förderung von Begabungs-Schwerpunkten kann sich der Leser nach eigenem Ermessen bedienen.
Am Ende des Buches ermuntert Dr. René Zihlmann, Direktor des Laufbahnzentrums der Berufsberatung der Stadt Zürich, Jugendliche und ihre Eltern zur frühen Inanspruchnahme berufsberatender
Hilfen, die durch ihren regionalen Bezug (Zürich in der Schweiz) jedoch nicht in jedem Falle übertragbar sind. Auch die in der Schweiz übliche Zensurenskala dürfte beim deutschen Leser für Verwirrung
sorgen.
Stellvertretend für die wesentliche Grundaussage dieses Buches schließe ich mit einem Zitat aus dem Kapitel »Förderung der sportlichen Begabung«, dem ich mich gerne anschließen möchte:
»Wichtig ist der Freiraum zur Selbstbestimmung. Talent kommt vom griechischen Wort „talanton“, dem Namen einer antiken Gewichtseinheit. Jedes Talent entsteht durch das Gewicht, welches die
ersten Bezugspersonen einer Eigenschaft des Kindes schenken. Welche das ist, ist oft zufällig. Dadurch aber, dass einer Bezugsperson etwas Bestimmtes auffällt: wie geschickt das Kind den Löffel hält,
wie gut es balancieren kann, erhält diese Fähigkeit bereits besondere Aufmerksamkeit und somit eine erste Förderung. Schon das kleinste Kind bemerkt nämlich, was andern positiv aufgefallen ist, und
es wird sich automatisch bemühen, auf diesem Gebiet weitere Erfolge zu erzielen.
Gerade deshalb ist es nun wichtig, dass Eltern gleich von Anfang an sehr aufmerksam sind, ihrem Kind einen Freiraum mit vielerlei Möglichkeiten anbieten und versuchen, ohne eigene
Beeinflussung die Stärken ihres Kindes herauszuspüren. Es ist wichtig, das Kind nicht zu schnell auf bestimmte Begabungen zu fixieren, denn es kann durchaus sein, dass es neben diesen bemerkten
Begabungen noch viel größere unentdeckte in sich trägt.
Je besser aber die ausgeprägtesten Begabungsanlagen des Kindes mit dem durch die Aufmerksamkeit der Eltern gewichteten Begabungen übereinstimmen, desto höher ist die Chance, dass sich aus
den Begabungsanlagen auch ein Erfolg versprechendes Talent entwickeln kann. […]
Zum Freiraum hinzu braucht es das Vertrauen der Eltern, dass ihr Kind das schon schaffen wird, und die dadurch ungetrübte Freude des Kindes am Erreichen des selbst gesetzten Zieles. Diese
Freude ist der Antriebsmotor, denn sie ist ein so schönes Gefühl, dass man sie immer wieder neu erleben möchte. Sie erst ermöglicht nicht nur das Erlernen einer Fertigkeit, sondern schenkt dem Kind
auch Selbstwertgefühl, Vertrauen in sich selber und das Erleben von Selbstverwirklichung. Es gibt deshalb nichts Wichtigeres als Geborgenheit, Liebe und Vertrauen und Freiraum – sie bilden die
Grundlage, auf der eine Begabung entsteht.« (S. 155-156)
Jutta Riedel-Henck, 18. Juni 2004
Rezensionen-Übersicht
Seitenanfang
© 2004 Jutta Riedel-Henck
|