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REZENSION 11

Heidemarie Brosche; Nele Maar

Wie meine Eltern?
Mütter und Väter denken über ihren Eltern-Schatten nach

150 Seiten, Klappenbroschur
€ (D) 14,90 / CHF 24,80
Zürich: Atlantis Verlag, 2004
ISBN 3-7152-1044-3

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« – dieses Sprichwort hat es mir seit einer Weile angetan. Ich schaue in die Auslage des Obststandes im hiesigen Supermarkt und studiere die Etiketten der glänzend wurmfreien roten, grünen und gelben Früchte hinsichtlich ihrer Herkunftsländer: Argentinien, Spanien, Marokko … Und nun? »Der Apfel wird vom Baum gepflückt und reist um die Welt«, lautet meine revidierte Sprichwortfassung.

Im Schatten des Elternbaumes liegt nur das Fallobst, wer etwas auf sich hält, fliegt durch die Lande, lässt sich bewundern, blank poliert und perfekt, gerade gewachsen und frei von braunen Stellen auf der appetitlich schimmernden Pfirsich-Haut. Apfelkerne aus Marokko, die auf Umwegen im norddeutschen Komposthaufen landen, keimen selten ohne kultivierende Förderungsmaßnahmen eines Gärtners. Probleme mit dem Nachwuchs bringen seine eigentliche Herkunft wieder ans Licht: besondere Vorlieben bzw. Abneigungen, Prägungen, Charaktere und Erbschaften.

So frei sich entwurzelte, erwachsen gewordene Kinder auch fühlen, nachdem sie ihr Elternhaus verlassen haben, die Erinnerung an ihre erste Lebenszeit sitzt tief – und wirkt nachhaltig.

    »Als ich gefragt wurde, ob ich an diesem Buch über den „Eltern-Schatten“, das heißt über den Einfluss der Erziehung der Eltern auf die ihrer Kinder, mitarbeiten wolle, dachte ich zunächst: Ein interessantes Thema, aber eigentlich ist doch jedem klar, dass wir ein Produkt unserer Erbanlagen und der Erziehung durch unsere Eltern sind und sich das natürlich auch auf die Erziehung unserer eigenen Kinder auswirkt. Was kann also so ein Buch bringen?
    Aber je länger ich mich gedanklich mit dem Thema befasste, desto deutlicher wurde mir, dass vieles, was uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln selbstverständlich erscheint, auf einer eher unbewussten Ebene abläuft und es sich lohnt, es auf eine andere, bewusstere Ebene zu heben, um sich damit konstruktiv auseinander setzen zu können.«
    (Aus dem Vorwort von Nele Maar, S. 7)

Ähnlich wie Nele Maar reagierte auch ich, als ihre Co-Autorin Heidemarie Brosche sich mit der Frage an mich wandte, ob ich einen Erfahrungsbericht für ihr Buchprojekt zum Thema Elternschatten beisteuern möge. Was sollte daran neu sein? Doch es dauerte nicht lange, und ich begann zu schreiben.

Nun liegt der fertige Band auf meinem Schreibtisch, und die anfänglichen Zweifel sind verflogen. Die Lektüre dieser wohl dosierten, aber nicht zu straff gekürzten Erfahrungsberichte hat mir richtig Spaß gemacht. In jedem fand ich Neues, aber auch Bekanntes, spürte den eigenen Stil der Autoren und Autorinnen, echt und unmaskiert: Texte aus dem Leben, deren Niederschrift zugleich der Bewusstwerdung und Selbstreflexion dienen mit therapeutischem Effekt. Die Herausgeberinnen halten sich mit ihren Kommentaren angenehm im Hintergrund, ohne wertend erhobenen Zeigefinger, vielmehr erklärend, um die einzelnen Bruchstücke in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen.

Wie aus dem Reihen-Titel »FamilienPraxis Erziehung« des Schweizer Verlags Atlantis pro juventute bereits hervorgeht, ist dieses Buch praxisorientiert und somit leicht verständlich für jedermensch geschrieben, woran sich manch studierte Wissenschaftler durchaus ein Beispiel nehmen dürften.

Probleme, die sich aus belasteten Biographien ergeben, müssen demnach keine unbezwingbaren Hürden bleiben, wenn wir uns ihnen stellen im Angesicht unserer Wurzeln, die uns Gift, aber auch fruchtbare Nahrung zuführten.

»Ein schlechtes Gewissen tut niemandem gut«, ist das letzte Kapitel des Buches betitelt, eingeleitet mit den trostreichen Worten:

    »Elternsein gehört wohl zu einer der größten Herausforderungen, und die Bewältigung dieser schwierigen Lebensabschnittsaufgabe bringt einige Mütter und Väter immer wieder an Grenzen. Wenn Eltern merken, dass sie nicht so handeln, wie sie es eigentlich gerne möchten und wie es ihrem Erziehungsideal entspricht, entwickeln sie Schuldgefühle und haben ein schlechtes Gewissen. [...] Solche Situationen gehören zum Elternleben. […] Dies passiert häufig unter Stress, weil man in solchen Situationen aus dem Bauch heraus reagiert. Man kann auch sagen, weil man die „bewusste“ Kontrolle verliert und sich dann meistens das Verhalten durchsetzt, das man aus der eigenen Erfahrung „unbewusst“ kennt.« (S. 141)

Jutta Riedel-Henck, 12. Mai 2004

 

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