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REZENSION 4

Wolfgang Bergmann

Erziehen im Informationszeitalter

kartoniert, 195 Seiten
München: dtv, 2003
ISBN 3-423-36304-5
€ 9,50

Computer, Handy, Gameboy, Playstation, DVD und Co. KG ... gibt es noch einen Haushalt, in dem nicht zumindest eines dieser aufgezählten Geräte vorhanden ist?

In der fünften Klasse meiner Tochter hat inzwischen fast jedes Kind sein eigenes Handy. Die Mädchen und Jungen benutzen es nicht unbedingt zum Telefonieren, sondern vor allem zum Spielen und SMS-Schreiben, Kurznachrichten funken, und sei es zum Nachbarkind, das auch auf anderen Wegen zu erreichen wäre. Die geistige Mobilität und daraus resultierende Unabhängigkeit von der körperlichen Fortbewegung hat ihren großen Reiz. Auch ich benutze das Internet inzwischen regelmäßig zur medialen Kommunikation, und dies sehr gerne.

Dennoch … ein stets mich beschleichendes komisches Gefühl bis hin zum schlechten Gewissen will mir nicht von der Seite weichen. Darf ich das? Ist das nicht unnatürlich und lebensfremd, komme ich auf die schiefe Bahn, wenn ich mich täglich durchs Internet bewege und meine körperlichen Sinne dabei vernachlässige? Statt zum Briefkasten zu laufen, funke ich eine Mail um die andere durchs Netz der Netze, glotze auf den Bildschirm und tippe mit den Fingerspitzen ohne großen Energieaufwand Briefe und Texte, um sie anschließend mit einem Mausklick der mir völlig undurchsichtigen Technikwelt anzuvertrauen. Hauptsache, es funktioniert irgendwie. Aber wehe, eine unvorhergesehene Panne durchkreuzt meine Pläne: Schon bin ich aufgeschmissen.

Diese Technik macht abhängig in jeder Hinsicht. Ich bin nur noch ein kleiner unscheinbarer wenig agierender Teil in einem grenzenlos wirkenden Komplex von elektronischen Bewegungen, die ich niemals überschauen werde.

Jede Abhängigkeit birgt Gefahren in sich. Je größer der Luxus, desto umfassender die Anforderungen an jene, die mit ihm umgehen. Und dies gilt in besonderem Maße für Kinder und Jugendliche, die mit diesem Luxus selbstverständlich aufwachsen.

Diesen Erziehungsanforderungen unter Einfluss des Gebrauchs neuer Medien widmet sich der Pädagoge, Kinder- und Familienpsychologe Wolfgang Bergmann in seinem Buch »Erziehen im Informationszeitalter«.

Anders als manche die alten Zeiten herbeisehnenden warnende Pädagogen probiert sich der Autor in einfühlendem Verständnis für die Wünsche und Nöte unserer Kinder, um die in vielen Familien herrschende Kommunikationsarmut auf neue Wege zu lenken, statt bereits bestehende Fronten zwischen den Generationen zu erhärten. Aufgeschlossen sucht er nach Erklärungen für die enorme Anziehung verbreiteter Computerspiele und ihre Wirkung.

Besonders anschaulich werden die Gefahren des Abrutschens in unsoziales Verhalten durch die Schilderung einzelner Fälle aus der Praxis des Psychologen unter Berücksichtigung familiärer Prägungen und einer häufig allzu laschen »liberalen« Erziehungshaltung der Eltern. Die Abwesenheit der Väter zu Gunsten einer intensivierten Mutterbindung, die in späten Phasen in entwicklungshemmende, klammernde Überbehütung münden kann, spielt darin eine wesentliche Rolle. Statt sich durch ausgetragene Konflikte innerhalb des Elternhauses in vielen kleinen Schritten abzunabeln und den Weg in die Unabhängigkeit zu finden, flüchten vor allem Jungen in die digitale Welt irrealer Bildkompositionen, die ihnen fern der unterdrückten Aggressionen eine Allmacht vorgaukeln, ohne das Ich des Spielers wahrhaft zu konfrontieren. Die Kämpfe finden im Kopf statt, saugen die Halt suchende Seele in ein scheinbares Zuhause, dessen Verteidigung in der Realität zugleich als Kriegsvermeidungsstrategie dient, um im schlimmsten Fall einen totalen Zerfall jeglicher sozialer Bindung zur Folge zu haben.

Der Reizüberflutung völlig ausgeliefert und mit allen Sinnen verfallen, fehlt den Heranwachsenden schließlich die Erfahrung im Umgang mit Konflikten und den in sozialen Zusammenhängen unvermeidbaren Einschränkungen und Rücksichtnahmen sowie der Verzicht auf sofortige Triebbefriedigung. Schneller, mehr, alles zur gleichen Zeit und immer vorhanden, ein Schlaraffenland ohne Grenzen lehrt das Gegenteil von dem, dessen gerade Kinder in der Pubertät so dringend bedürfen, um zu einem gesunden, sozial (re-) agierenden Individuum heranzureifen.

Umso wichtiger, dass Eltern auf ihre Autorität pochen und sich selbst als Trainingsgegner für ihre in der Lösung begriffenen Kinder behaupten. Dabei ginge es nicht, so der Autor, um die Rückbesinnung auf den Mief alter Zeiten, sondern um gesunde Standhaftigkeit zur disziplinierenden Orientierung in einer schwierigen Phase der kindlichen Entwicklung. Kinder brauchen strenge Eltern, die nicht über alles und jedes endlose Diskussionen führen, die in problematischen Zeiten klipp und klar sagen (und vor allem tun!), was geht und was nicht.

Auch konkrete Tipps für den Alltag hält Bergmann parat: z. B. Pläne erstellen für das Notwendige und Unumgängliche, Bonus-Punkte verteilen für erledigte Pflichten und erreichte Ziele, die eingelöst werden für einen längst ersehnten gemeinsamen Ausflug oder Zirkusbesuch.

»Ich komme bei Ihnen wohl gar nicht vor, oder?«, fragt eine Mutter den Autor im 13. Kapitel des Buches.

In der Tat schreibt Bergmann als Mann und Vater, im Mittelpunkt stehen vor allem Jungen und kaum Mädchen, die als weniger gefährdet gelten im Umgang mit Computer und Co. Dem würde ich zwar gerne widersprechen, sehe es dem Autor jedoch nach, wenn er lieber über etwas schreibt, das ihm geläufig ist und als Problematik ins Auge fällt. Meiner Beobachtung nach verlieren sich Jungen hingabevoller in Computerspielen, während Mädchen in einer Art Scheinkommunikation in Internet-Foren und Chats ihre nicht minder irrealen Rollenspiele vollziehen, um sich darin eine Ersatzwelt mit vermeintlich großem Freundeskreis aufzubauen, der, wie jedes Computerspiel, austauschbar ist und wenig bis gar keinen Wert auf individuelle Eigenarten legt. Der dem zu Grunde liegende Flucht- und damit Suchtcharakter ist in seinen Wurzeln gleich. Auch Mädchen vermeiden Konflikte, wissen ihre Strategien jedoch geschickter, d. h. wortgewandter zu tarnen und überspielen.

Alles in allem ein wichtiger und hilfreicher Ratgeber über ein Thema, das hoffentlich noch viele Autoren und Autorinnen animiert, darüber zu forschen, um den neuen Trend mitsamt seiner Gefahren aufklärend und schreibend zu begleiten.

Jutta Riedel-Henck, 4. Dezember 2003

 

Weiterführende Links

Wolfgang Bergmann: »Verlorene Väter«

tz-Interview: Wolfgang Bergmann zu Erfurt

»Hilfe – mein Kind braucht mich«

 

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