»Kinder brauchen böse Eltern« – Titel prägen Inhalte, selbst dann, wenn sie nur als Anstoß gedacht waren.
Meine Tochter, 10 Jahre, machte kurzen Prozess. Beim abendlichen Zähneputzen erzählte sie mir nebenbei, sie hätte mir ein Buch geklaut. »Ja, hab ich gesehen, und ich habs
mir wieder zurückgenommen«, erwiderte ich. Darauf Jana selbstbewusst: »Ich will nämlich keine bösen Eltern!«
Während ich mich verständnisvoll im Inneren des Buches befand und sogleich zu einer Richtigstellung ausholte, indem ich erklärte, es ginge nicht ums Bösesein, sondern
darum, den Kindern nicht alles zu erlauben, dass Eltern auch Launen haben dürfen, einen eigenen Kopf, dass Streit nicht zu vermeiden sei und zum Leben gehöre, spürte ich gleichzeitig meinen inneren
Widerstand gegen den Begriff böse.
Jana hatte Recht. Sie will keine bösen Eltern, und ich möchte keine böse Mutter sein. Brauchen Kinder böse Eltern? Ist der Titel gleich Programm?
»Wer schreibt, provoziert«, provoziert der populäre Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki schreibend. Kurz und treffend formuliert, d. h. auf den Punkt gebracht.
So auch Till Bastian. Er bietet keinen Ratgeber mit praktischen Erziehungstipps,
sondern eine suchende Schilderung eigener Gedankengänge geboren aus dem Widerstreit zwischen Gefühl und Ideal, Eltern- und Kindbedürfnissen, Wertvorstellungen und Realität, Wunsch und Wirklichkeit, motiviert von Erlebnissen im Umgang mit seinen zwei Söhnen.
Eher distanziert probiert sich der Autor in einer Reflexion seines eigenen Erziehungsverhaltens, als ließe er die Leser an den immer wieder aufquellenden inneren
Gesprächen teilhaben, die ihn in seiner Rolle als Vater beschäftigen, um zugleich nach neuem Halt zu suchen in Form einer selbst geschaffenen Ordnung, in welcher Regeln und hierarchische Strukturen den
eigenen Standpunkt bekräftigen bzw. den der Kinder. Doch bleibt es bei einem Versuch, die Sicht der Kinder einzunehmen, kommen diese hier nicht selbst zu Wort bzw. nur durch die Vermittlung des Vaters.
Die Perspektive des Kindes Till Bastian als Sohn seines Vaters (und seiner Mutter) habe ich während des Lesens vermisst.
»Ist der Autor denn dieser böse Vater, den seine Kinder angeblich brauchen?«, begleitete ich mich fragend bis zur letzten Seite. »Nein«, war meine spontane Antwort, »aber
vielleicht möchte er es gerne sein?« Oder vielleicht wäre er gerne ein böser Sohn gewesen? Vielleicht hätte er sich gewünscht, böse Eltern zu haben, die nicht so viel denken und zweifeln, die
unreflektiert handeln, ihm klar zu erkennen geben, wer der Boss ist, die Macht hat, um dem Sohn einen frechen Gegenpol zu bieten? Bzw. eine Kindheit, in der ein Kind Kind ist und die Eltern Eltern. Genau
diesen Unterschied bringt Bastian nachdrücklich aufs Papier, worin ich die Kernaussage sehe und zugleich ein Symptom der Nachkriegsgeneration, da die Angst vor Kriegen geradezu betäubend wirkt auf das so
lebenswichtige Konfliktverhalten innerhalb familiärer und sozialer Beziehungen. Aggressionen sind verpönt, Egoismus gilt fast als Schimpfwort, und die starke Verbreitung von Alice Millers »Drama des
begabten Kindes« bringt noch einmal ein Defizit im Land der »Dichter und Denker« zum Vorschein, das ich kurz gefasst als »Unterdrückung der Gefühle« bezeichnen würde zu Gunsten einer rationalen Macht
über alles Lebendige und damit Kindliche in jedem Menschen jeden Alters.
Kinder brauchen keine bösen Eltern, aber Eltern wie Kinder brauchen die Berechtigung, das vermeintlich Böse, d. h. Gefühle zwischen Zorn, Hass und Eifersucht als
naturgegeben und sinnvoll anzuerkennen, statt es um jeden Preis unterdrücken zu wollen bzw. müssen, um nicht voreilig als Kinderschänder kriminalisiert zu werden.
Till Bastian in seinem Nachwort: »Ich möchte Eltern ermutigen, nicht immer nur daran zu denken, wie sie gute Eltern sein können. Ich möchte sie ermutigen, vieles, was
gemeinhin als gut gilt, besser zu unterlassen – weil es ihren Kindern schadet. Ich möchte sie ermutigen, ihren Kindern nicht jeden Wunsch von den Augen abzulesen, ihnen nicht alle Schwierigkeiten aus dem
Weg zu räumen, ihnen nicht jederzeit ein verständnisvoller Freund sein zu wollen und nicht immer für sie dazusein.«
Ob das Buch diesen Mut vermittelt, kann ich nicht beurteilen. Zumindest ist es eine geistige Erfrischung und vor allem Aufforderung, die uns alle mehr oder weniger
beherrschenden und verbreiteten Denklasten zu hinterfragen und damit unseren »bösen« Gefühlen ihre Berechtigung einzuräumen.
Für Jana sprang nach dem Zähneputzen zumindest eine Taschengelderhöhung von 50 Cent heraus. Nicht, weil ich mich bei ihr einschmeicheln wollte, sondern, weil sie im
Verlaufe unseres Gespräches bemerkte, dass wir diese bei uns so übliche Erhöhung zu jedem ihrer Geburtstage in diesem Jahr schlicht und einfach vergessen hatten.
Jutta Riedel-Henck, 1. Juli 2003
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